Was macht „Glaube Liebe Hoffnung“ zu einem Theatertext, der gerade heute auf die Bühne gehört?
Eberhard Köhler: Wir befinden uns gegenwärtig in einer historischen Situation, die Ähnlichkeiten mit den frühen 1930er-Jahren aufweist. Es gibt soziopolitische Parallelen, die dazu führen, dass solch ein knapp 90 Jahre alter Text plötzlich wieder aktuell erscheint: Bei Horváth geht es um mehr als nur Arbeitslosigkeit und soziale Not, die Gesellschaft stand damals kurz vor dem Aufstieg des Faschismus und dem Zweiten Weltkrieg. Der Text erweist sich als erschreckend vielschichtig.
Caro Thum: Wie auch zu Zeiten der Weimarer Republik taumeln wir heute gefühlt von einer Krise in die nächste. Damals waren es der Erste Weltkrieg, die Inflation im Jahr 1923 und schließlich die Weltwirtschaftskrise 1929, welche die Machtergreifung von Hitler begünstigte, weil die Leute nicht nur arm waren, sondern auch völlig erschöpft und desillusioniert. Vergleichbar heute sind die Covid-Pandemie und der Angriffskrieg auf die Ukraine mit seinen drohenden, mehr als nur wirtschaftlichen Folgen. Uns beschleicht das diffuse Gefühl: Vielleicht stehen auch wir unter einem komischen Dampfkesseldruck, bei dem es langsam zu viel wird und das ganze System auch kippen könnte.
Köhler: Ja, das System erscheint immer fragiler. Weitere Erfahrungen der Geschichte der Gegenwart lassen sich ergänzen: Seit 2017 sitzt die AfD im Deutschen Bundestag. Nach dem Ende von Trumps US-Präsidentschaft wurde 2021 das Capitol in Washington gestürmt. 2020 versuchten ebenso Demonstrant:innen gegen die Corona-Maßnahmen, den Berliner Reichstag zu stürmen, auch wenn sie nur bis zum Eingang gelangten. Irgendwas an der Zeit heute ist viel drängender und bedrohlicher als noch vor einigen Jahren. Und genau das fängt Horváths Text wie in einemBrennglas ein.
Welche ‚kleinen‘ Erzählungen finden sich bei Horváth, die auf die genannten ‚großen‘ Erzählungen der Zeit verweisen?
Köhler: Horváths Stück vermittelt die großen Krisen über Alltagsgeschichten einfacher Leute, die sich in diesen großen Umbrüchen befinden. Es werden private, menschliche Geschichten erzählt und gleichzeitig bleibt spürbar: Alles geschieht in dieser Form, weil – um bei der Metapher zu bleiben – so ein Druck auf dem Kessel ist.
Thum: Es gibt einen seltsamen Sog zum Dunkeln. Vielleicht wollen es alle Figuren gut machen, aber haben einfach nicht mehr die Kraft dazu. Entweder fehlt ihnen das Geld, das Gefühl oder es widerfährt ihnen etwas Schreckliches. Alle werden von irgendetwas runtergezogen. Dieser Sog zieht auch die Protagonistin Elisabeth nach unten, die ja eigentlich ein glühender Funken Leben ist: ganz jung, will leben und ihr Leben gut machen. Doch dann passiert ihr ein Unglück nach dem nächsten – bis sie sich irgendwann umbringt, es zumindest versucht.
Inwiefern spiegelt sich die prekäre Gesamtsituation auch in der sprachlichen Gestaltung der Figuren wider?
Köhler: Horváth ist einer meiner Lieblingsautoren, da sich zentrale Inhalte nicht nur im Modus der Sprache, sondern gerade in der Abwesenheit von Sprache vermitteln. Er schreibt Pausen und Stille explizit in die dramatischen Vorlagen mit ein. Das ergibt eine ganz eigene musikalische Taktung der Texte. Musik besteht ja nicht nur aus Tönen, sondern aus Tönen und Pausen. Genau das hat er literarisch umgesetzt.
Dahinter steckt auch die Idee, dass die Figuren im Stück auf verschiedene Art und Weise enteignet werden: Sie haben nicht nur wenig Geld im Portemonnaie und fühlen materiellen Druck, sondern erfahren ein Stück weit auch eine Form der Sprachenteignung.
Thum: Exakt, Horváth präsentiert eine große Musikalität von Sprache. Diese Sprache kommt nicht alltäglich daher, vielmehr scheint es, als wären die Verstümmelungen der Seelen in sie eingeschrieben.
Gibt es bei Horváth wiederkehrende Muster für solche Stilisierungen von Stille und Nichtsagbakeit?
Köhler: Manchmal realisieren die Figuren selbst, dass etwas nicht stimmt, verfügen aber nicht über die notwendigen Mittel, um das in Worte zu fassen. Dann entgleist der Dialog und es kommt zu denkwürdigen Momenten der Stille.
Darüber hinaus neigen die Figuren dazu, sich mit ihren Äußerungen quasi ‚einzukitschen‘. Wenn sie nicht wissen, wie sie etwas ausdrücken sollen, flüchten sie sich oft in merkwürdige Kalenderweisheiten: „Dann sage ich einfach so etwas wie: Morgenstund hat Gold im Mund. Das hab ich irgendwo mal aufgeschnappt. Das trifft zwar nicht genau, was ich sagen will, aber…“ Interessanterweise werden diese Redewendungen zumeist auch nicht regelkonform verwendet; stattdessen wird ein Wort umgestellt oder seltsam verdreht. Das gefällt mir wahnsinnig gut.
Das Stück trägt den Untertitel „Ein kleiner Totentanz“. Welche Rolle spielt das Motiv des Totentanzes für die Inszenierung?
Köhler: Für die Erstellung der Strichfassung war relevant, dass es zwei unterschiedliche Fassungen des Horváthschen Textes gibt: einmal in fünf Akten und einmal in sieben Bildern. Wir haben uns für den biblischen Siebenerschritt entschieden. Das Stück ist zudem nicht als „Totentanz“ überschrieben, sondern als „kleiner Totentanz“. Die Figuren haben halt nicht die große Tragödie im Gepäck, sondern bloß ein Tragödchen.
Die Traumatisierung der Figuren lässt sich gut am Beispiel des Barons aufzeigen, der im Ersten Weltkrieg war. Das große Töten ist noch gar nicht so lange her, das noch viel größere Töten steht unmittelbar bevor. Im Motiv des Totentanzes steckt die Merkwürdigkeit, dass im Tod alle gleich sind. Egal, wo sie sozial verortet sind, der Tod ist der ganz große Gleichmacher.
Thum: Zugleich heißt das auch: „Der kriegt euch alle!“ Unabhängig davon, ob Horváth damit den wirklichen Tod, den Faschismus oder allgemein die ‚Dunkelheit‘ in der Gesellschaft meint.
Köhler: In mittelalterlichen Totentanz-Darstellungen der bildenden Kunst wird der Tod in der Regel als Skelett dargestellt, wobei dieses relativ munter und tänzerisch aussieht. Das Skelett tanzt gleichermaßen mit dem Papst, dem Bischof, dem König, der jungen Frau, dem Bauern und noch vielen mehr. Jede:r wird in seiner eigenen Art und Weise geradezu spielerisch vom Tod abgeholt.
Der Totentanz taucht nicht nur als Motiv, sondern auch wörtlich genommen als ‚Tanz von Toten‘ in der Inszenierung auf.
Köhler: Absolut, wir nehmen den Aspekt des Tanzens ernst. Zwischen den einzelnen Bildern finden tatsächlich Totentänze statt. Aus diesem Grund arbeiten wir mit Live-Musik und haben den Leiter des Balletts, Steffen Fuchs, integriert. Im Team haben wir zur Vorbereitung zudem Totenkulte aus verschiedenen Kulturen betrachtet. Interessant waren für uns zum Beispiel walachische Totenrituale, die für ungeschulte Augen zunächst mit munteren Balkan-Beats verwechselt werden konnten, oder auch der mexikanische Día de Muertos als eine Art Totenkarneval.
An einer Stelle der Inszenierung sollte darüber hinaus ein musikalisches Motiv aus dem Musical-Film „Corpse Bride“ (2005) von Tim Burton auftauchen. Der Film, der historische Sagen aus dem russischen wie auch jüdischen Kontext aufgreift, verweist auf den christlichen Brauch der Totenhochzeit und schildert eine kuriose Verkehrung: dass die Welt der Toten überraschend munter und lustig ist, während die Welt der Lebenden tot und rigide erscheint.
Die Protagonistin Elisabeth aus „Glaube Liebe Hoffnung“ funktioniert über lange Zeit wie ein Stehaufmännchen und will sich nicht unterkriegen lassen, bis sie sich vor dem letzten Bild entscheidet: Nein, sie hat keine Chance in diesem Spiel, sie geht ins Wasser und will ihrem Leben ein Ende setzen. Doch nicht einmal das wird ihr zugestanden; sie erhält keinen Zugang zu diesem fröhlichen Land der Toten, das ein möglicher Ausweg wäre.
Text: Katharina Alsen
Fotos: Matthias Baus