Ganz selten sind die deutschen Titel von Hollywoodfilmen besser als das Original. Billy Wilders 1950 veröffentlichter Film „Sunset Boulevard“ etwa bezieht sich im Titel auf eine Straße zwischen Los Angeles und West Hollywood, eine Straße, deren Name darauf verweist, dass man von hier den Sonnenuntergang über dem Pazifik sieht. In den deutschen Kinos lief der Film als „Boulevard der Dämmerung“, eigentlich die wörtliche Übersetzung des englischen Titels, aber ein kleiner Hinweis, der über den Handlungsort hinausweist: In „Boulevard der Dämmerung“ schwingt etwas Düsteres mit, die Nachtseite von Hollywood klingt hier an. Jedenfalls hat Andrew Lloyd Webber den Stoff 1993 als Musical fürs Londoner West End bearbeitet. Und in Koblenz inszeniert es Intendant Markus Dietze.
„Es gib bestimmt so etwas wie einen Genius Loci“, beschreibt Dietze die Stimmung auf dem Sunset Boulevard. „Orte erzeugen Figuren und Menschen. In Koblenz ist ein gutes Beispiel die Bundesgartenschau 2011: Plötzlich waren Menschen gegen Autoverkehr in der Innenstadt, obwohl sie es vorher nie waren, weil sie herausgefunden haben, wie toll das bei der Gartenschau war.“ Und wie in Koblenz plötzlich die Figur „Bürger:in für eine autofreie Innenstadt“ existierte, so tauchten auf dem Sunset Boulevard der 1950er Jahre ganz bestimmte Menschentypen auf. Menschen wie der nur mittelerfolgreiche Drehbuchautor Joe (Markus Schneider). Oder die Schauspielerin Norma Desmond (Monika Maria Staszak), die während der Stummfilmära ein Weltstar war und die nicht akzeptieren kann, dass sie mit dem Aufkommen des Tonfilms in Vergessenheit geraten ist. „Durch das Showbusiness werden bestimmte Konfigurationen von Beziehungen hergestellt, deswegen ist dieser Ort so wichtig“, weiß Dietze.
Es geht um Showbusiness, es geht um Kino, um die „Traumfabrik“ – im Libretto werden „Träume aus Licht“ besungen. In Koblenz nimmt Dietze das sehr ernst und erzählt das Musical über weite Strecken mit filmischen Mitteln. Das beginnt schon mit der ersten Szene, in der eine Leiche im Schwimmbecken treibt: Das wird erst mit beunruhigenden Unterwasseraufnahmen gezeigt, nach einem Schnitt zoomt die Kamera aus dem Bild, zeigt den ungewöhnlich geformten Pool von oben, einen gepflegten Garten. Nur immer mit Leiche, ein schaurig-schönes Arrangement des Wohlstands. Gedreht wurden die Filmpassagen von Georg Lendorff, hochprofessionell, hochästhetisch. Und vor allem auch mit Spaß an der Durchmischung: Lendorff nimmt existierende Filmschnipsel, die er mit neu gedrehten Aufnahmen in einen anderen Kontext stellt. Ein Vergnügen: eine Autoverfolgungsjagd durch die Straßen Hollywoods, die aus unzähligen Actionfilmen zusammengeschnitten zu sein scheint.
„Wenn man Bilder, die schon existieren, mit selbst gedrehten Passagen verbindet, dann macht das große Freude“, beschreibt Dietze dieses Vorgehen. „Es macht Spaß, mit den Darsteller:innen dieses Stücks Szenen zu drehen, die aussehen wie ein früher Tonfilm aus den Fünfzigern.“ Der Aufwand ist natürlich beträchtlich, auch wenn Dietze von den Erfahrungen der vergangenen zwei Jahre zehrt: „Durch die Pandemie sind wir schlicht besser ausgestattet, wir haben zum Beispiel Filmlicht, wir haben Greenscreens und so weiter“ Außerdem baut er auf die Kontakte seines Teams in die Stadt, zu Privatleuten, die dem Theater ihren Pool für die Dreharbeiten zur Verfügung stellen, zum Oldtimermuseum, zu Drohnenpiloten. Die Szenen, die auf der Leinwand eindeutig an Kalifornien denken lassen – sie zeigen Koblenz. Und es ist ein weiterer Spaß, wenn man zurückverfolgt, wo der Westerwald hier die Hollywood Hills doubelt.
Dass eine Inszenierung, die im Filmbusiness spielt, auch formal auf Filmmittel zurückgreift, ist nachvollziehbar. Aber über das Formale hinaus: Was begeistert einen Theatermacher im Koblenz des Jahres 2022 eigentlich an einem Stoff, der (auch in der aktuellen Inszenierung) eindeutig im Los Angeles der 1950er verortet ist? „Billy Wilder hat mal gesagt, was ihn an dem Thema interessiert, ist die Tatsache, dass der Umbruch vom Stummfilm zum Tonfilm für die amerikanische Gesellschaft so bedeutsam war, wie der amerikanische Bürgerkrieg“, zitiert Dietze den Filmregisseur. Mag sein, dass die Kunst hier ein wenig viel Macht zugesprochen bekommt, aber: Tatsächlich beschreibt „Sunset Boulevard“ einen Epochenbruch. „Die totale Veränderung von allgemein als nicht veränderbar geltenden Parametern macht etwas mit Menschen.“ Spannend ist dabei zu beobachten, wie Menschen mit diesen Veränderungen nicht klarkommen, wie sie ihre Existenzgrundlage verlieren, während andere mit einem Schlag unvorstellbar reich werden – alles Biografien, wie man sie auch in der Gegenwart kennt, in Zeiten, in denen Digitalisierung, Klimakatastrophe oder Ukrainekrieg alle Gewissheiten über den Haufen werfen. Bei „Sunset Boulevard“ kommt dann noch dazu, dass die Geschichte wahnsinnig spannend und unterhaltsam ist.
Und zudem auch noch gut klingt. Andrew Lloyd Webber, von der Hochkultur manchmal etwas belächelt als Musical-Routinier, hat eine mitreißende Musik komponiert, die eindeutige Anleihen bei Filmmusik macht und so das inhaltliche Thema in der Komposition spiegelt. „Diese Musik ist anders als bei den sonstigen Musicals von Andrew Lloyd Webber“, bestätigt Dietze. „Er bedient die drei großen Abteilungen der Filmmusik, Mood-Technik, Leitmotivtechnik und Underscoring, alles musikalische Mittel, die eigentlich zurückzuverfolgen sind bis zur musikalischen Affektenlehre der barocken Musiktheorie. Gleichzeitig komponiert Llyod Webber in „Sunset Boulevard“ lange Melodramen. Und schließlich greift er auf Liedformen zurück. Webber ist rein handwerklich nicht weniger versiert als andere lebende Komponist:innen. Aber gleichzeitig ist er angewiesen auf kommerziellen Erfolg und bedient deswegen die Konventionen des Genres: leichte Wiedererkennbarkeit, Hittauglichkeit.“ Was auch eine hübsche Parallele darstellt zu den Drehbuchautoren in „Sunset Boulevard“, die ebenfalls alles für den Erfolg tun würden. Bis auf Norma Desmond, die unbedingt alles für ihre künstlerische Vision gibt.
Und vielleicht macht das entsetzliche Scheitern von Norma Desmonds künstlerischer Unbedingtheit „Sunset Boulevard“ zum wirklich großen Stück. Zum Stück, das davon erzählt, wie es jemandem ergeht, der nicht verstanden hat, wie grundlegend sich die Welt verändert hat.
Fotos: Matthias Baus von der Orchesterhauptprobe am 02.11.2022.