Eine zeichenhaft angedeutete Einbauküche mit Herd, Kühlschrank und einem großen Tisch im Zentrum – nicht gerade das Setting, das man erwartet, wenn man hört, dass Georg Friedrich Händels Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ (übersetzt „Der Sieg der Zeit und der Erhellung“) gegeben wird. Doch gerade dieses alltägliche und wohl jedem im Zuschauerraum bekannte Setting entpuppt sich als Schlüssel, um das über 300 Jahre alte Werk einem heutigen Publikum zugänglich zu machen.
Händel in Italien: Der Entstehungshintergrund von „Il trionfo“
Entstanden ist das Oratorium bereits 1707 während Händels Zeit in Italien. Dorthin war der in Halle an der Saale geborene Komponist ein Jahr zuvor gegangen, um – nach ersten Erfolgen an der Hamburger Oper am Gänsemarkt – die dortige Musikkultur zu studieren und wichtige Kontakte zu knüpfen. Insbesondere in Rom, einem der großen musikalischen Zentren Italiens, versuchte Händel, seine Kompositionen einem breiten Publikum vorzustellen und Auftraggeber, etwa aus den Reihen der wohlhabenden römischen Kirchenfürsten, zu gewinnen.
Da in Rom aufgrund eines päpstlichen Verbots aus moralisch-religiösen Gründen keine Opern gespielt werden durften, wandte sich Händel – lange, bevor er mit dieser Gattung in London große Erfolge feierte, – der Komposition von Oratorien zu, darunter auch „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“. Das Libretto zu diesem Oratorium verfasste einer von Händels römischen Mäzenen, Kardinal Benedetto Pamphili, weshalb die christliche Prägung des Textes wenig verwundert.
Im Zentrum des Oratoriums stehen vier Allegorien: Die der Schönheit (Bellezza; Hannah Beutler), die des Vergnügens (Piacere; Haruna Yamazaki), die der Erhellung (Disinganno; wörtlich „Ent-Täuschung“; Christian Borrelli) sowie die der Zeit (Tempo; Piotr Gryniewicki). Die Schönheit ist zwischen Vergnügen auf der einen Seite und der Erhellung und Zeit auf der anderen Seite hin- und hergerissen. Zunächst schwört sie dem Vergnügen Treue, doch sie erkennt, dass ihre (irdische) Schönheit vergänglich ist. Bellezza entscheidet sich daher nicht für irdische Verlockungen, sondern für himmlische Erlösung, sodass Tempo und Disinganno, wie der Titel des Werks bereits verrät, über das Vergnügen siegen.
Vom barocken Rom in die WG-Küche
Der erzieherisch-moralisierende Impetus des Oratoriums ist unverkennbar – und greift dabei prominent das für die Barockzeit charakteristische Konzept des „Memento mori“ („Bedenke, dass du sterben wirst“) auf, mit dem die Vergänglichkeit des irdischen menschlichen Lebens prägnant zusammengefasst wurde. Doch wie überträgt man eine solche Idee auf unsere heutige Zeit und für ein heutiges Publikum? Vor genau dieser Herausforderung stand das Regieteam um Jan Eßinger (Regie), Sonja Füsti (Bühne) und Silke Willrett (Kostüm) bei der Konzeption der Koblenzer Inszenierung des Oratoriums. Schnell kristallisierte sich als Lösung heraus, die vier allegorischen Figuren des Originals in eine alltägliche Szenerie zu übertragen – nämlich in eine Diskussionsrunde junger Leute in einer Küche.
„Aus den vier Allegorien werden vier Personen, die sich gegenseitig beweisen wollen, dass sie besser sind als die jeweils anderen“, erklärt Bühnenbildnerin Sonja Füsti zum Konzept. „Es entspinnt sich ein Beziehungsgeflecht, das in einer Art WG-Küche stattfindet.“ In dieser Küche machen sich in der Koblenzer Inszenierung die Freundinnen Bellezza und Piacere für eine Party zurecht, als Bellezzas Partner Tempo und dessen Freund Disinganno dazustoßen. Eigentlich treffen sich die jungen Leute zum Vorglühen – einschließlich typischer Partyspiele wie Flaschendrehen –, doch schnell geraten die vier aneinander und streiten über die Vergänglichkeit von Schönheit und irdischen Freuden. „Vier Leute sitzen zusammen und debattieren übers Leben“, fasst Füsti die Ausgangssituation treffend zusammen.
„Was will ich im Leben?“ – eine zeitlose Frage
In der nachfolgenden Diskussion fordern die Anwesenden von Bellezza eine Entscheidung zwischen Piacere und Tempo – oder anders ausgedrückt: zwischen dem Genuss im Hier und Jetzt mit ihrer Freundin Piacere und einer langfristigen Zukunft mit ihrem Partner Tempo. „Für uns als Team war es wichtig, dass es nicht um vier allgemeine Prinzipien geht, sondern um vier junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Sehnsüchten, an die man andocken kann“, erläutert Regisseur Jan Eßinger seine Lesart des Oratoriums. „Es war spannend herauszufinden, was diese vier Hauptfiguren eigentlich für Menschen sind und wie man deren Handlungen nachvollziehbar machen kann“, ergänzt Kostümbildnerin Silke Willrett.
„Eigentlich besitzt das Stück vier gleichwertige Hauptfiguren“, so Eßinger weiter, „doch in unserem Konzept fokussieren wir uns auf Bellezzas Reise zu sich selbst. Die zentrale Frage innerhalb von ‚Il trionfo‘ lautet dabei: ‚Was will ich im Leben?‘.“ Und diese Frage ist gegenwärtig in der Tat noch genauso aktuell wie Anfang des 18. Jahrhunderts. „Es werden sehr heutige Konflikte dargestellt, die auch für ein aktuelles Publikum gut nachvollziehbar sind“, unterstreicht Eßinger. „Selbst, wenn dieses bisher noch keinen Zugang zu einem barocken Oratorium hatte.“
Ein spielerischer Umgang mit barocken Elementen
„Wichtig war uns, das Stück für Zuschauer im Hier und Jetzt verständlich und zugänglich zu machen“, betont Willrett. „Das soll kein Museumsstück sein, sondern ein Werk für heute, das erlebbar und nachvollziehbar ist. Das ist schöne, alte Musik, aber mit einem absolut aktuellen Thema. Trotzdem war von Anfang an klar, dass auch barocke Elemente auf der Bühne und im Kostüm eine Rolle spielen sollen. Mit ihnen wird jedoch bewusst spielerisch umgegangen.“
So wird das Personal des Oratoriums in der Koblenzer Fassung beispielsweise durch drei Figuren ergänzt, die der barocken Sphäre entlehnt sind: ein Junge, der unter anderem Amor und Bacchus verkörpert, ein Faun sowie eine Tänzerin im Barockkostüm, die den Abend nicht nur eröffnen, sondern bisweilen auch als Spielmacher fungieren. „Die Figuren helfen, das Thema aufzugreifen und die barocken Affekte zu unterstreichen“, erklärt Eßinger. „Die Affekte von Text und Musik werden dabei nicht eins zu eins übertragen, vielmehr werden Assoziationsräume geschaffen.“
In den Requisiten des Abends finden sich ebenfalls immer wieder Verweise auf typisch barocke Motive und Symbole, etwa wenn der Faun im ersten Teil des Oratoriums ein barock inspiriertes Stillleben herrichtet. Hier ist mit Sanduhr, Totenkopf, Spiegel und Zwiebel die „Memento mori“- bzw. „Vanitas“-Thematik, also der Verweis auf die Vergänglichkeit des (irdischen) Lebens, omnipräsent.
„Wir bringen Klischee-Barock-Zitate“, unterstreicht Füsti, „die jedoch in die heutige Welt gezogen werden und sich dadurch auflösen.“ Auch in den Kostümen, in denen Willrett auf einen „geträumten Realismus“ zurückgreift, führt sich dieser bewusst spielerische Umgang mit barocken Elementen fort und schafft damit eine spannende Brücke zwischen der Entstehungszeit des Werks und dem heutigen Publikum.
Die Annahme der eigenen Vergänglichkeit
„Das Oratorium ist im Original stark von einem barock-christlichen Weltbild geprägt“, erklärt Regisseur Eßinger. „Im Libretto geht es darum, dass Bellezza zwischen irdischem Vergnügen und himmlischer Erlösung wählen muss. Bei der Inszenierung stellte sich die Frage, welche Entscheidung Bellezza eigentlich trifft. Und wir wollen in unserer Lesart zeigen, dass Bellezza letztlich ihre eigene Vergänglichkeit annimmt – und somit zu sich selbst findet.“
Eine besondere Herausforderung war es, so Eßinger, „die Handlungsstränge so zu bauen, dass die Entwicklung der Figuren klar wird und ihre Vielschichtigkeit sichtbar wird“. Hierzu trägt in besonderem Maße Füstis Bühnenbild bei, in dem die Entwicklung, die die vier Figuren durchleben, genau nachgezeichnet wird. „Der Raum löst sich im Verlauf des Stücks auf“, erläutert Füsti. „Wir beginnen in einem Naturalismus, doch der Raum zerfällt und löst sich am Ende auf.“
Tatsächlich wird die zu Beginn größtenteils realistisch, wenn auch zeichenhaft dargestellte Küche während des Stücks (gerade beim Übergang vom ersten zum zweiten Teil) mehr und mehr demontiert. Möbel sowie andere Einrichtungsgegenstände werden umgeworfen und umfunktioniert. Auch der Einsatz von Licht (Christofer Zirngibl) und Video (Britta Bischof) trägt maßgeblich dazu bei, die Küche im Verlauf des Abends immer stärker aus ihrer realistischen Verortung zu lösen – etwa, wenn der umgeworfene Kühlschrank den Figuren dramatisches Licht von unten ins Gesicht strahlt – und hierdurch den Entscheidungsprozess Bellezzas auch visuell-räumlich nachzuzeichnen.
Ein tragikomisches Kammerspiel
Der Fokus des Abends liegt durchweg auf den vier Hauptpersonen, deren Sehnsüchte, Wünsche und Entwicklungen eindringlich und realitätsnah dargestellt werden. „Wir machen aus dem Oratorium ein tragikomisches Kammerspiel von vier Figuren, die die ganze Zeit auf der Bühne sind“, erklärt Regisseur Eßinger. „Der Probenprozess war entsprechend sehr intensiv. Wir haben immer mit allen vier Darsteller:innen geprobt, damit die szenischen Vorgänge zwischen den Figuren sehr dicht werden konnten. Aus einer Arie werden so (szenische) Duette oder Quartette, weil alle Figuren immer aufeinander reagieren.“
Dabei kam es im Probenprozess durchaus zu einigen überraschenden Wendungen, wie Eßinger berichtet: „Es gab viele gemeinsame Diskussionen und eine große Offenheit im Team. Durch das vertrauensvolle Verhältnis bei den Proben war es nicht nur möglich, die Vielschichtigkeit der Figuren herauszuarbeiten, sondern auch ihre Verletzlichkeit zu zeigen – was die Darstellenden allerdings auch zulassen müssen.“ Gerade in den Endproben kurz vor der Premiere lässt Eßinger seinen Darsteller:innen entsprechend viel Raum, sich und ihre Rollen zu entfalten. „Ab jetzt werden die Sänger:innen gehen gelassen“, betont der Regisseur. „Jetzt sollen sie sich die Figuren vollständig zu eigen machen.“
Wie gut die vier Solist:innen mit den vier Allegorien bzw. den vier Personen, die am Küchentisch darüber debattieren, was sie eigentlich im Leben wollen, verschmelzen, kann das Publikum ab Donnerstag, dem 15. Mai 2025 selbst herausfinden, wenn Händels Oratorium „Il trionfo del Tempo e del Disinganno“ seine Premiere im Koblenzer Theaterzelt feiert.
Text: Patrick Mertens
Fotos: Matthias Baus