Eine unvergessene Ikone des Belcanto

05. November 2022 · von Manfred Jahnke

Es gibt nur wenige Orte, an denen Opern- und Schauspielenthusiasten sich begegnen. „Meisterklasse“ von Terrence McNally ist so ein Ort. Manfred Jahnke war für uns auf einer Probe von „Meisterklasse“ und hat anschließend mit der Hauptdarstellerin Raphaela Crossey gesprochen.

Die „göttliche“ Maria Callas ist unvergessen. Obschon 1977 verstorben, wird sie immer noch als Ikone des Belcanto gefeiert, deren Stimme nicht nur drei Oktaven umfassen konnte, sondern auch von einer großen Flexibilität geprägt war: mal leise umschmeichelnd, dann in eruptiven emotionalen Ausdrucksformen ausbrechend. Noch heute, wenn man die CDs oder alte Schallplatten anhört und erst recht, wenn man auf YouTube alte Auftrittsausschnitte anschaut (oder den „Medea“-Film von Pasolini im Video), spürt man das technische Können und noch mehr die Leidenschaft, in der sich da jemand verzehrt. Aber die Callas ist mehr als eine Ikone des Belcanto, die in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts den Gesang revolutionierte, in dem sie diesen in konkreten Situationen erdete.

Mit ihrer Verwandlung vom „hässlichen Entlein“ in die „Göttliche“ wurde aus dem Pummelchen ein Gesamtkunstwerk aus Stimme, Kostümen, die von den bekanntesten Modeschöpfern passend zu den Opern kreiert wurden, perfektem Make-up und genauen Requisiten: Man hatte nicht nur etwas zum Hören, sondern auch etwas zum Schauen. Da darüber hinaus die Callas akribisch die Situation ihrer Figuren analysierte, sie psychologisch interpretierend ins Spiel umsetzte, die Stimme zur Bewegung wurde – oder umgekehrt? –, wurde ihr Auftritt zunächst mit Befremden aufgenommen, bis sie dann an der Mailänder Scala nach vergeblichen Anläufen vorher ihren triumphalen Durchbruch hatte.

Und dann gibt es ja auch noch die dunklen Seiten der Callas, bei der sich die Biografen widersprechen: ihre Ehe mit Meneghini, den sie verließ, nachdem sie Aristoteles Onassis 1959 kennengelernt hatte. Skandale umgab sie, die viel von den Unsicherheiten einer Frau erzählen, die es gewöhnt war, sich unter den widrigsten Umständen durchsetzen zu müssen und dabei sich nicht scheute, auch mit unlauteren Mitteln zu kämpfen. So, wie sie ihre eigenen Ressourcen mit jedem Auftritt verbrauchte, so nutzte sie ihre Mitmenschen für ihre Karriere aus. Weil sie alle ihre 42 Partien, die sie mit den Jahren beherrschte, mit Leidenschaft sang, sich jeden Abend verausgabte, wurde ihre Stimme brüchig. 1965 verabschiedete sie sich von der Opernbühne. 1971 und 1972 leitete sie die Meisterklassen an der renommierten Juilliard School in New York.

Raphaela Crossey auf dem Weg zur Hauptprobe

In seinem Stück „Meisterklasse“, 1995 uraufgeführt, greift der amerikanische Autor Terrence McNally (1938 – 2020) diese Grundsituation auf. Vor einem großen Publikum agiert die Callas als Pädagogin, die kein Blatt von dem Mund nimmt, wenn sie auf die Qualität des Gesangs pocht – auch, wenn denn einmal eine Meisterschülerin weinend die Bühne verlässt. In der Begegnung mit zwei jungen Sopranistinnen und einem jungen Tenor gibt sie tiefen Einblick in ihre Arbeitstechniken und mehr noch in ihre Disziplin. Auf einer zweiten Ebene erzählt die Callas – nicht immer in feinen Worten – in Monologen aus ihrer Biografie, wobei deutlich wird, wie stark der Kampf gegen die widrige Umwelt ihr Leben prägt und wie der Ehrgeiz sie im wahrsten Sinne des Wortes auffrisst. Es entsteht eine eigentlich tragische Geschichte, die aber durch die Lehrsituation mit feiner (Selbst-) Ironie durchzogen wird.

McNally betont die Grundsituation, in dem er direkte Kontakte zwischen der Callas und dem Publikum herstellt, ihre Eitelkeit und auch Herrschsüchtigkeit zu Beginn aufzeigt: Da ist die Callas mit dem Pianisten allein auf der Bühne und kommandiert die Technik, da ist das Licht zu dunkel, es fehlt ein Schemel oder eine Karaffe mit Wasser. Für die Inszenierung von Markus Dietze hat Bodo Demelius einen großen, durch einen weißgrauen Rundhorizont nach hinten abgeschlossenen „leeren“ Raum geschaffen, der durch einen Konzertflügel und einem hohen Drehstuhl dominiert wird: ein Raum, der die Menschen auf der Bühne klar ausstellt. Die Kostüme von Bernhard Hülfenhaus orientieren sich an der Mode der frühen siebziger Jahre. Die Callas tritt hier im eleganten schwarzen Hosenanzug auf, mit Perücke, großer Tasche und ihre berühmte dicke schwarze Hornbrille. Selbst auf Kleinigkeiten wird geachtet, wie das große Tuch von Hèrmes.

Das Bühnenbild verwandelt sich in den Zuschauerraum der Mailänder Scala

„Meisterklasse“ ist ein „Schauspiel mit Gesang“, denn selbstverständlich bringen die Schülerinnen und der Schüler ihre einstudierten Arien mit, die zum Material einer atemberaubenden Lehrstunde werden. Bewundernswert wie die beiden Sopranistinnen Claire Austin und Inge Balzer-Wolf, sowie der Tenor Junho Lee mit ihren Stimmen die Arien von Bellini, Verdi und Puccini, begleitet von Francisco Rico am Flügel, zum Klingen bringen, aber gleich von der Callas unterbrochen, korrigiert und belehrt werden. Ein Clou dieser Inszenierung von Markus Dietze ist nämlich, dass die Rollen der Schülerinnen und des Schülers mit Sängerinnen, bzw. einem Sänger besetzt sind, die Callas aber mit einer Schauspielerin: Raphaela Crossey.

Eine Schauspielerin hat selten eine Berührung zur Oper. Raphaela Crossey erinnert sich im Gespräch, dass ihr Vater ein großer Callas-Fan war. Sonntagmorgens saßen sie und ihr Vater im Schaukelstuhl und lauschten den Opern, in denen die Callas sang. Ein tiefer Respekt sei ihr geblieben und Bewunderung für eine Frau, die es geschafft hat, über die Sparten hinweg Neues auf die Wege zu bringen. In der Rollenvorbereitung hat sie viel gelesen, wobei sie am meisten bei den Interviews mit der Callas, die noch auf YouTube zu sehen sind, Erkenntnisse hätte heraus ziehen können. Sie hätte da ganz viel von der Selbstkontrolle der Sängerin begriffen und dabei genau die Gestik der Sängerin studiert, einige dieser Gesten wären auch in ihr Spiel eingegangen.

Raphaela Crossey bei den Probenvorbereitungen

Nachgefragt, was sie denn an der Callas besonders bewundere, betont sie, dass es die Art von deren Spiel gewesen sei, die die Latte für alle nach folgenden Generationen von Sängerinnen und Sängern sehr hoch gelegt habe. Dass die Callas es nur mit dem Raubbau an ihren eigenen Potentialen geschafft habe und sie in ihrer Selbstdisziplin, die sie dann auch von anderen einforderte, eine Spur zu dogmatisch gewesen sei, empfinde sie als Schauspielerin als zweifelhaft. Was dem Spiel von Raphaela Crossey auch anzumerken ist: eine wunderbare Selbstironie wirkt im Hintergrund des Spiels, wobei sie betont, dass sie diese Selbstironie auch in den Interviews mit der Callas gefunden habe.

Für ihre Rollenarbeit sei es wichtig gewesen, dass McNally kein Dokumentartheaterstück geschrieben habe, sondern ein Stück darüber, was der Ehrgeiz mit einer Künstlerin mache, wie dieser in die Einsamkeit führe, eingebunden in eine starke Reflexion darüber, was denn nun das Spezifische im Theater sei. Dass das auch zu einer Überprüfung der eigenen künstlerischen Position führe, sei eine der Herausforderungen der Rollenarbeit gewesen. In der Situation einer Meisterklasse fände sie besonders bemerkenswert, wie ehrlich die Callas in ihren Urteilen gewesen sei. Das habe sehr kränkend wirken können, aber sie habe (fast) immer den Nagel auf den Kopf getroffen. Im Unterricht sei sie ganz anders als im Privatleben, wo sie sich gerne zum Opfer von Intrigen stilisierte, kritisch und ehrlich gewesen.

Regisseur Markus Dietze, die Sänger:innen der Produktion und Pianist Francisco Rico

Die Materialfülle, die für eine Rollenarbeit zur Verfügung steht, verdeckt, dass es nicht darum gehen kann, die pädagogische Arbeit der Callas zu rekonstruieren, sondern, dass es darum geht, einen eigenen Zugang zu finden. Wie ein Probenbesuch des 2. Teils von „Meisterklasse“ aufzuzeigen vermochte, gelingt es Raphaela Crossey, den Furor dieser Figur vorzuführen, aber zugleich auch deren Verletzlichkeit aufzuzeigen. In dieser Ambivalenz „schwebt“ die „Callas“ in großer Leichtigkeit, ohne das tragische Fundament zu leugnen. Eine spannende Auseinandersetzung mit der Kunst und dem Künstlertum ist entstanden: eine überfällige Reflexion über das, was Theater, Oper, Kunst allgemein in Zeiten ausmacht, wo Kunst marginal zu werden scheint – wie derzeit, wo Pandemie, diffuse Kriegsängste und Horror vor Inflation die Gesellschaft zu lähmen beginnt.

Ach ja, es gibt nur wenige Orte, an denen Opern- und Schauspielenthusiasten sich begegnen. „Meisterklasse“ von Terrence McNally ist so ein Ort, wo beide sich treffen können und jede Fraktion auf ihre Kosten kommt.

Fotos: Matthias Baus