Wagner trifft auf Virtual Reality: Das Rheingold

23. Oktober 2025 · Dr. Patrick Mertens

Musikwissenschaftler Dr. Patrick Mertens testet die VR-Experience der neuesten „Rheingold“-Produktion.

„Auf dem Grunde des Rheines. Grünliche Dämmerung, nach oben zu lichter, nach unten zu dunkler. Die Höhe ist von wogendem Gewässer erfüllt, das rastlos von rechts nach links zu strömt.“ So beschreibt Richard Wagner die Bühne für die erste Szene seines„Rheingolds“ (Uraufführung 1869). Eine Opernszene auf dem Grund eines Flusses – ein solches Setting eröffnet natürlich vielfältigste künstlerische Möglichkeiten und Bühnenbildner:innen haben in den letzten 150 Jahren ihre ganz individuellen Lösungen dafür gefunden, wie man den Rheingrund auf einer Theaterbühne darstellen kann.

Doch wäre es nicht fantastisch, die Rheintöchter Woglinde, Wellgunde und Floßhilde tatsächlich einmal unter Wasser sehen zu können? Was im Film dank Bluescreen-Technologie oder Motion-Capture-Verfahren problemlos möglich wäre, stellt für ein Theater eine größere Herausforderung dar. Markus Dietze und Inga Schulte haben sich in ihrer Inszenierung des „Rheingolds“nun genau dieser Herausforderung gestellt und ermöglichen es den Zuschauer:innen in der Koblenzer Produktion der Wagner-Oper, wortwörtlich mit den Rheintöchtern auf den Flussgrund zu tauchen.

Neue Publikumskreise durch digitales Theater

Wie das möglich ist? Mit modernster Technologie. „Der Impuls, aus dem diese Inszenierung entstanden ist, ist kein theoretischer, sondern ein spielerischer“, erläutert Markus Dietze die Entstehung des besonderen Konzepts. „Die Ring-Mythologie ist semantisch sehr ähnlich zu einem Game. Wir übersetzen die Mythologie also in ein anderes Zeichensystem und machen uns hierfür neue Technologie zu Nutze.“

Mit dieser neuen Technologie meint Dietze zum einen ein Motion-Capture-Verfahren, mit dem die Rheintöchter in der ersten Szene der Oper auf der Bühne digital in eine fantasievolle Unterwasserwelt projiziert werden, in der sie schwimmen und singen können. Zum anderen umfasst die neue Technologie im „Rheingold“ auch ein Virtual-Reality(VR)-Erlebnis, das es 15 Personen bei jeder Vorstellung ermöglicht, die fantastische Welt der Rheintöchter hautnah zu erleben – und zwar durch VR-Brillen.

„Wir versuchen die Idee des Gesamtkunstwerks auf eine neue Weise zu interpretieren“, betont Inga Schulte. „Wir wollten neue Technologie mit traditionellem Theater kombinieren.“ In der Tat sind die zweite und vierte Szene der Oper, die federführend von Schulte inszeniert wurden, vornehmlich mit Mitteln des traditionellen Theaters gestaltet, während die Eröffnungsszene und die Nibelheim-Szene (unter Dietzes Federführung inszeniert) stärker durch den Einsatz moderner Technologie geprägt sind. „Immersives Theater wird hier mit Oper verbunden, um so hoffentlich sowohl traditionelles Wagner-Publikum als auch neue Publikumskreise anzusprechen“, erklärt Schulte.

Eine Opernvorstellung im weißen Drehstuhl

Wer sich für das immersive Theatererlebnis des „Rheingolds“ entscheidet, wird die erste Szene der Oper sowie den Beginn der dritten Szene nicht mit dem Rest des Publikums im Zuschauerraum erleben, sondern ungewöhnlicherweise im Foyer. Hier stehen 15 weiße Drehstühle bereit, auf denen die Virtual-Reality-Besucher:innen Platz nehmen. Bereits eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn erhalten diese zunächst eine Einführung in die Technologie und den Ablauf der Vorstellung.

Dann geht es los: Nach Aufziehen der futuristischen VR-Brille findet man sich plötzlich in einer fantasievollen Unterwasserwelt wieder. Durch den Drehstuhl kann man problemlos die gesamte Umgebung betrachten und fühlt sich direkt als Teil der Rheintöchter-Welt. Bevor man diese allerdings erkunden kann, muss man zunächst lernen, sich in dieser Welt zu bewegen. Ganz ohne Zeitdruck kann man während einer halbstündigen Tutorial-Phase ausprobieren, mit den Händen nach Moos zu greifen, um sich daran vorwärtszuziehen, und lernen, eine Muschel als rasantes Wassertaxi zu benutzen.

Obgleich der grobe Ablauf der Szene vorgegeben ist, hat man als Zuschauer:in mit der VR-Brille viel Freiheit, sich in der unbekannten Welt zu bewegen. Im Hintergrund stets präsent: Wagners schillernde „Rheingold“-Partitur, deren Dramaturgie die Entwicklung der VR-Szene bestimmt. Das Bedienen und Bewegen in der digitalen Welt ist dabei recht selbsterklärend und funktioniert auch für Personen mit wenig VR-Brillen-Erfahrung bestens – das ist also definitiv ein Opernerlebnis für alle Altersklassen.

Brücken zwischen verschiedenen Medien

„Wir trauen uns hier etwas ganz Neues“, berichtet Julien Rodewald, Digital Artist des Digital Theatre, der die „Rheingold“-VR-Experience betreut. „Wir bauen Brücken zwischen verschiedenen Medien und schauen, wie wir VR-Technologie im Theater einsetzen können.“ Ähnlich wie die Bühnenproduktion durchläuft auch die VR-Experience eine intensive Probenphase, bei der Tester:innen mit unterschiedlichen Hintergründen die digitale „Rheingold“-Welt ausprobieren. „Die Proben hier sind für uns letztlich Softwaretests“, erläutert Rodewald. „Wir holen Rückmeldung ein, wie fehlerfrei das Programm funktioniert, wie gut die Leute damit klarkommen – und natürlich, ob sie es ansprechend finden.“

Gestaltet und programmiert wurde die digitale Welt der Rheintöchter sowie Nibelheims unter Leitung von Ulrich Stöcker, Creative Director Digital der Produktion. „Der Umfang dieses Projekts war sehr groß“, betont Stöcker. „Es gibt so viele verschiedene Bausteine, die das Team gleichzeitig entwickelt.“ Seit Mitte April arbeitet Stöckers 15-köpfiges Team, das sich aus Freelancer:innen, Werkstudierenden und Praktikant:innen zusammensetzt, schon daran, die Landschaften, Hintergründe, Gegenstände und Personen, die man in der VR-Experience und auf der Bühne sieht, zum Leben zu erwecken. „Die besondere Herausforderung war die Balance zu halten: Wir mussten bei der Musik bleiben und wollten gleichzeitig die Kreativität der Digital Artists nicht bremsen.“

Motion-Capture-Technologie für die Rheintöchter

Um das Ergebnis der Arbeit von Stöcker und seinem Team bewundern zu können, muss man keinesfalls ein VR-Experience-Ticket gebucht haben. Auch im Zuschauerraum kann man den Einsatz einer Technologie im Theater erleben, die man sonst eher aus dem Film kennt: Motion Capture, also die Übertragung von Bewegungen realer Personen auf einen digitalen Avatar und in eine digitale Umgebung.

Die Darstellerinnen der drei Rheintöchter Woglinde, Wellgunde und Floßhilde sind nämlich in der Koblenzer Inszenierung mit Trackern ausgestattet, sodass ihre Bewegungen mit Hilfe von sog. „Lighthouses“ an einen Computer gesendet werden können. Das Publikum im Saal sieht diese Bewegungen dann auf einer großen Video-Wand, übertragen auf drei digitale Avatare der Rheintöchter, die ebenfalls von Stöcker und seinem Team gestaltet wurden: Ein roter Tintenfisch, eine lila Qualle und ein grüner Fisch, die sich in der gleichen fantasievollen Unterwasserlandschaft bewegen, in die man auch durch die VR-Brillen eintauchen kann.

Neue Erfahrungen für die Sängerinnen

Für die drei Sängerinnen der Rheintöchter bringt diese Technologie ganz besondere Herausforderungen mit sich, eröffnet zugleich aber auch unglaublich spannende künstlerische Möglichkeiten. „Man kann die Rheintöchter gar nicht besser darstellen“, schwärmt Michèle Silvestrini, die Wellgunde verkörpert, und betont: „Die Technik ist sehr stark auf unsere Bedürfnisse eingegangen.“ Das unterstreicht auch Britta Bischof vom Digital Theatre, die die videotechnische Koordination des Abends innehat: „Die digitalen Elemente der Oper werden seit einem halben Jahr entwickelt. Die Sängerinnen wurden sehr früh in den Prozess mit eingebunden. Sie konnten die Technik früh ausprobieren und sagen, was sie brauchen. Und sie alle waren ganz offen für die Technik.“

„Vor jeder Vorstellung müssen wir einen Motion-Capture-Check machen“, berichtet Silvestrini über die Unterschiede zu anderen Opernproduktionen. „Alles muss ganz genau auf den eigenen Körper kalibriert sein und das Spacing muss stimmen.“ Damit ist gemeint, dass sich die drei Sängerinnen in einem ganz bestimmten Bereich auf der Bühne aufhalten und bewegen müssen, damit die Bewegungen korrekt in die digitale Welt übertragen werden. „Wir haben zudem drei Pedale“, ergänzt die Sängerin. „Eines, mit dem wir schneller schwimmen können, eines, um unsere Figur zu zentrieren, und eines für vorprogrammierte Bewegungen.“

Letzte Korrekturen in der Endprobenphase

Die korrekte Übertragung und Darstellung der Motion-Capture-Elemente wird von Britta Bischof überwacht, die während der Vorstellung an ihrem Computer auf der Seitenbühne sitzt und den Videoablauf des Abends steuert. Gerade in der Endprobenphase fallen dabei immer wieder noch kleinere Korrekturen an, die es bis zur Premiere umzusetzen gilt. „Es ist nicht einfach, die digitalen Entstehungsprozesse in den Theaterzeitplan einzupassen“, berichtet Bischof. „Änderungen kann man nicht so einfach und schnell durchführen.“

In der Tat dauert es oft einige Tage, bis eine neue Version der Software verfügbar ist, sodass man immer erst mit Verzögerung prüfen kann, ob bestimmte Änderungen auch funktionieren. Das Ergebnis bei der Klavierhauptprobe ist allerdings schon sehr beeindruckend: Man sieht die Rheintöchter nicht nur im Wasser schwimmen, ihre Bewegungen in der digitalen Welt sind genauestens auf Wagners Text abgestimmt und die Sängerinnen folgen einer präzisen Choreografie, die ebenso spannend zu beobachten ist wie das Ergebnis des Motion-Capture-Verfahrens.

Zwei vollkommen unterschiedliche Erlebnisse

Die Erlebnisse im Saal und im Foyer sind so unterschiedlich, dass man sich gar nicht entscheiden kann, in welcher Form man „Das Rheingold“ lieber sehen möchte: mit VR-Brille oder mit Blick auf die Sängerinnen. „Ich bin für zwei Mal kommen“, rät Markus Dietze. „Bei der Rheinszene kann ich mich über die VR-Brille frei und nicht-handlungsbezogen bewegen, aber bekomme dafür nicht mit, wie die drei Sängerinnen ihre Avatare steuern.“ Inga Schulte ergänzt: „Die Entscheidung, welche Variante man bucht, ist sehr individuell – es ist ein ganz anderes Erlebnis.“

Die Premiere von „Das Rheingold“ findet am 24. Oktober statt. Hier hat das Publikum die Möglichkeit, sich vom Zusammenspiel von klassischer Oper und modernster Technik zu überzeugen. Ob man das Werk mit VR-Brille oder im Zuschauerraum erlebt, macht dabei einen erstaunlichen Unterschied – zwei Zugänge zur gleichen Oper, die sich gegenseitig ergänzen.

Text: Dr. Patrick Mertens
Fotos: Matthias Baus
und Arek Głębocki