Die Aura des Außergewöhnlichen

04. Februar 2023 · von Manfred Jahnke

Alle Hintergrundinformationen zu Verdis Erfolgsoper "La Traviata" und die Neuinszenierung von Anja Nicklich – aufgeschrieben von Manfred Jahnke.

Kamelien, die zur Gattung der Teebäume gehören, haben wunderschöne Blüten, die mit hoher Symbolik aufgeladen sind: Sie stehen für Luxus, sind Ausdruck einer reinen Liebe, signalisieren aber auch einen Neubeginn. Alle drei Bedeutungen treffen auf Violetta Valéry zu. Als Kurtisane lässt sie sich von der reichen Gesellschaft aushalten. Als sie Alfredo kennenlernt, erwacht in ihr eine ganz neue leidenschaftliche Liebe und mit dieser die Hoffnung auf ein neues Leben. Was Violetta gelingt, scheidet ihre Umwelt. Befangen im Vorurteil wird der Kurtisane die Verbürgerlichung versagt. Als klar wird, mit wie viel Leidenschaft Violetta liebt und wie ernst sie es meint, ist es zu spät: Die Schwindsucht, die Tuberkulose, rafft sie dahin.

Vorgeschichten

Was der Komponist Giuseppe Verdi und sein Librettist Francesco Maria Piave dramatisch erzählen, hat Vorgeschichten: Die Figur der Violetta ist keine freie Erfindung. Sie hat ein reales und ein literarisches Vorbild. Zum einen wird die Geschichte der Kurtisane Marie Duplessis (1824 – 1847) aufgegriffen, von deren ungeheuren Schönheit geschwärmt wurde und die sich in ihrem kurzen Leben schier verbrannt hat. Alexandre Dumas d.J., der Marie Duplessis auch persönlich kannte (liebte) – „Man hätte sie für eine Figur aus Meißener Porzellan halten können.“, schrieb er und „Sie war eine der letzten und eine der wenigen Kurtisanen mit Herz.“ –, erzählte ihre Geschichte als Roman und brachte „Die Kameliendame“ im Théâtre de Vaudeville zu Paris am 2. Februar 1852 zur Uraufführung. Unter den Zuschauern befand sich auch ein Komponist namens Verdi. „Die Kameliendame“ wurde im 19. Jahrhundert das Stück der großen Schauspielerinnen. So wurde es für die berühmte Sarah Bernhardt zur Paraderolle, in der es ihr auch noch mit fast siebzig Jahren gelang, das Publikum zu rühren.

Während „Die Kameliendame“ weitgehend aus den heutigen Spielplänen entschwunden ist, ist „La Traviata“ zu einer der meistgespielten Opern der Welt geworden und zur Paraderolle der großen Sängerinnen in der Geschichte der Oper. Dabei war die Uraufführung am 6. März1853 im Teatro La Fenice zu Venedig ein Fiasko: Dass eine Kurtisane im Zentrum der Handlung stand, wurde als Skandalon begriffen, obschon Verdi auf Grund von Eingriffen der Zensur die Handlung weit in die Vergangenheit zurückverlegte. Die Zensoren hatten sich da die Meinung von Alfredos Vater zu eigen gemacht: Einer „gefallenen Frau“ eine derartige Gefühlstiefe zuzutrauen und zu zeigen, was die Gesellschaft aus ihr macht, strapazierte die damalige bürgerliche Öffentlichkeit. Entscheidend für diesen Misserfolg dürfte allerdings die Leistung der Sänger und Sängerinnen gewesen sein, die katastrophal gewesen sein muss.

Die vom Wege Abgekommene

Schon der Titel der Oper verweist darauf, dass hier eine problematische Figur im Zentrum steht. „Traviata“ heißt die „vom Wege Abgekommene“, eine, die sich verirrt hat. Im Augenblick aber, wo ihre Sehnsucht nach wahrer Liebe wirklich zu werden scheint und sie sich mit dem Geliebten auf das Land nahe Paris zurückzieht, da holt sie das alte, vom Wege abgekommene Leben wieder ein. Obschon Verdi in sieben kurzen Wochen die Oper komponierte, ist sie derart komplex, dass kaum alle Themen ausgelotet werden können, zumal sie zuallererst ein Fest des Belcanto ist.

Im Zentrum steht Violetta, tuberkulosekrank. Was man sich kaum mehr vorstellen kann: Schwindsüchtige, die mit der Zeit durch ihre Krankheit immer durchsichtiger scheinen, wurden in alten Zeiten nicht nur als „Meißner Porzellanfigürchen“, sondern auch als begehrte Sexualobjekte gesehen. Sie waren mit der Aura des Außergewöhnlichen umgeben. Dass sie zugleich Todgeweihte waren, wurde ausgeblendet. Sie wurden bewundert, aber auch misshandelt. Schließlich waren sie Finanzobjekte, wurden ausgehalten, waren gesellschaftlich geächtet. Eine auf den schönen Schein aufbauende Gesellschaft verstrickt sich immer tiefer in diesen Schein. Geld ist dabei von entscheidender Bedeutung. 

Auch in „La Traviata“. Nicht nur Alfredo wirft seine Spielgewinne vor Violetta hin, um seine Verachtung auszudrücken, sondern am Ende verteilt auch Violetta die Hälfte ihres geschmälerten Vermögens an Arme. Das ist eine der wenigen Stellen in dieser Oper, an denen Soziales zum Ausdruck kommt. Die Gesellschaft in „La Traviata“ lebt in einer Blase, einer Partygesellschaft, wie wir heute sagen würden, die sich selbst feiert. Wie in jeder feudalen Gesellschaft findet alles öffentlich statt. Erst in der bürgerlichen Gesellschaft existiert eine Trennung zwischen privat und öffentlich. In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts – die demokratischen Aufstände von 1848 sind verdrängt – hat sich unter Aneignung der feudalen Verhaltensweisen die Gesellschaft nicht nur in Paris verbürgerlicht. Mit der Verbürgerlichung feudaler Strukturen entschwindet auch die Kurtisane. Bei den Bürgern, die auf ihren Geldbeutel achten, wird alles profaner: Da gibt es dann die Prostituierte, aber Prostituierte und Kurtisane haben außer ihrer Käuflichkeit nichts miteinander zu tun. 

Der allgegenwärtige Tod 

Was hinter der Tünche des schönen Scheins stattfindet, erweist sich beim näheren Hinsehen als morbide Gesellschaft, eine, die zum Verschwinden verurteilt ist und sich doch mit Champagner noch alter Größe hingibt. Die Wände, die die Bühne einengen, sind grau, mit schmutzigen Schlieren. In der Mitte dominiert ein großes Portal, ein Fenster, hinter dem die Gesellschaft sich zeigt, zwei Türen und an den Seiten jeweils offene Portale. Antonia Mautner Markhof führt im Halbdunkel der Lichtführung ein Ambiente vor, das eine Welt zeigt, die eigentlich schon abgelebt sich aufbäumt – um diese abgegriffene Metapher doch zu benutzen – im Tanz auf dem Vulkan. Mautner Markhof schafft da einen Assoziationsraum, der voller Erinnerungen in die Gegenwart führt. Und die Inszenierung von Anja Nicklich ist so geschickt, diesen Raum offen zu lassen, dem Publikum die Freiheit zu lassen, den Assoziationsrahmen weiter zu spinnen.

Anja Nicklich, seit letzter Spielzeit Operndirektorin am Theater Koblenz, ist dem hiesigen Publikum bestens bekannt. Seit über einem Jahrzehnt inszeniert sie jede Spielzeit eine Musiktheaterproduktion, mit „Il Trovatore“, „Nabucco“ und „Rigoletto“ auf der Festung Ehrenbreitstein dürfte sie beim Koblenzer Publikum bestens als Verdi-Regisseurin eingeführt sein. Eines ihrer Ziele ist, dass das Publikum sich beim Zuschauen wohlfühlen und dabei die Energie des Aktuellen spüren kann, d.h. nachzuempfinden, dass das, was auf der Bühne stattfindet, auch etwas mit dem Heute zu tun hat. Sie arbeitet dabei, genau in den Text und die Partitur hineinhörend, mit starken Symbolen. Das Sichtbarste dürfte das Auftreten des Todes sein, der stumm, alle anderen überragend, auf der Bühne agiert, zunächst mehr im Hintergrund, dann wie die Dienerfigur im japanischen No-Spiel die Kamelie an Alfredo überreichend und sich in das Spiel einmischend. Der Tod wird von Wolfgang Conze überzeugend pantomimisch mit einer elastischen Reitgerte in der Hand gespielt, mit der er das Geschehen regiert. Er ist der Regisseur des Geschehens, auch die Massen gehorchen seinen Anweisungen. Klar ist aber auch: Er tritt nur auf, wenn Violetta auf der Bühne ist. Er ist ihr Begleiter, ihr grauslicher Schatten, der nur dadurch seine Schrecklichkeit verliert, weil Violetta um ihre Endlichkeit weiß.

Eine Gesellschaft der Voyeure

Die Masse, der Chor, agiert zunächst hinter einer großen Fensterfront, voyeuristisch auf die Szene stierend, die dann die Bühne stürmt. Diese Gesellschaft wird ganz nahe an der Bühnenrampe gerückt. Lauter individuelle „verrückte“ Züge werden vorgeführt, da quellen die Haare affenartig aus der Brust, ist ein Gesicht so geschminkt, dass es wie eine Totenmaske aussieht, etc., bis hin zur Bewegung in einem alten Rollstuhl. Das Auge des Zuschauers hat so viel zu schauen, dass er wieder fokussiert werden muss. Kurz: Die Maske und der Kostümbildner Bernhard Hülfenhaus haben zusammen mit der Schneiderabteilung das Abbild einer maroden Gesellschaft geschaffen. Der Modergeruch des Morbiden wird wahrnehmbar: Die Gesellschaft findet sich zu einem Totentanz. Später splittert das Fenster in der Mitte, die Welt zerscherbt. Erst am Schluss, mit dem Sterben der Violetta wird die Fensterfront wieder heil und glotzen hinter den Scheiben die Bürger auf die Szene in der Hoffnung, eine Sensation zu erhaschen.

Nicht nur mit der Figur des Todes und der Metapher des splitternden Spiegels setzt Anja Nicklich klare konzeptionelle Schwerpunkte, in denen sich der heutige Blick auf die Geschichte verhüllt, sondern sie hat auch sehr genau Partitur und Libretto studiert. Im zweiten Akt, der auf dem Lande spielt, tritt Alfredo als Jäger mit einem erlegten Hirsch auf. Als er es zu brechen versucht, besudelt er sein Hemd mit Blut. Dieses Hemd bewahrt nach der schmerzhaften Trennung Violetta auf und trägt es in der Sterbeszene: eine Erinnerung an die einstige große Liebe, bis diese selbst erscheint – zu spät. Eine rührende Szene, die zu Herzen geht. Adriana Ferfecka, eine junge Polin, macht das ergreifend. Atemberaubend, über welches Volumen ihre Stimme verfügt und wie viel spielerisches Potenzial frei wird. Vor ein paar Jahren hat sie Violetta schon einmal gespielt. Auch Matteo Desole, der sich alternierend mit Junho Lee die Rolle des Alfredo teilt, hat diese Partie schon gesungen, u.a. am Teatro La Fenice. Das Publikum darf ein Fest der Stimmen erwarten, zumal es gelingt, die Komposition von Verdi nicht nur zum Klingen zu bringen und ihr in allen Höhen, Tiefen und Tempi zu folgen, sondern auch im Spiel zu gestalten.

Für Anja Nicklich wie den Chefdirigenten Marcus Merkel ist es die erste Begegnung mit „La Traviata“ – eine echte Premiere also. Seit der letzten Inszenierung in der Spielzeit 2005/2006 für das Koblenzer Publikum also von großer Spannung, zumal es ein großartig aufspielendes Ensemble erwarten kann. Neben den schon genannten Adriana Ferfecka, Matteo Desole/Junho Lee und Chor, dessen Agieren hier noch einmal betont werden soll, sind das Dmitry Lavrov als Alfredos Vater, Danielle Rohr als Flora, Haruna Yamazaki als Annina, Nico Wouterse als Baron Douphol, Jongmin Lim als Doktor Grenvil, sind Ingyu Hwang, Tae-Oun Chung, Sebastian Haake…: Alle sind wichtiger Teil eines Abends, der großartig zu werden verspricht.

Der Bericht basiert auf einem Besuch der Bühnenorchesterprobe am 31.01.2023, sowie Gesprächen mit Anja Nicklich und dem Produktionsdramaturgen Andreas Wahlberg am 01.02.2023

Interview: Manfred Jahnke
Fotos: Matthias Baus
Figurinen: Bernd Hülfenhaus