Kristina in Koblenz

19. November 2025 · Dr. Patrick Mertens

Musikwissenschaftler Dr. Patrick Mertens besuchte die Konzeptionsprobe für die konzertante Voraufführung des Musicals „Kristina“. Was es mit dieser besonderen Produktion auf sich hat, verrät er im Blog.

Deutsche Erstaufführung eines schwedischen Musicals

Eine deutschsprachige Erstaufführung zu produzieren, ist für jedes Theater ein ganz besonderes Ereignis – insbesondere, wenn es sich um ein Werk von solch berühmten Autoren wie bei „Kristina från Duvemåla“ handelt: Benny Andersson und Björn Ulvaeus. Die beiden Songwriter gelangten in den 1970er-Jahren als Teil des schwedischen Popquartetts ABBA zu Weltruhm und widmeten sich schon während ihrer ABBA-Zeit ersten Musicalprojekten. 1984 folgte dann „Chess“ (mit dem Welthit „One Night in Bangkok“), 1999 schließlich der Musical-Dauerbrenner „Mamma Mia!“, in dem die bekanntesten ABBA-Songs als musikalische Grundlage verwendet werden.

Ein Musical über schwedische Auswanderer

Zwischen diesen beiden auch in Deutschland regelmäßig gezeigten Werken schufen Andersson und Ulvaeus ein drittes, hierzulande bislang nur in Fankreisen bekanntes Musical: „Kristina från Duvemåla“, das im Oktober 1995 seine Uraufführung in Malmö erlebte. Grundlage des Musicals bildet die in Schweden äußerst populäre Romantetralogie „Utvandrarna“ von Vilhelm Moberg (1898–1973). Moberg thematisiert in seinem Werk die schwedische Migrationswelle nach Amerika ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, in deren Rahmen rund ein Fünftel der schwedischen Bevölkerung ihre Heimat in Richtung USA verließen. „Mobergs Auswanderer-Tetralogie ist noch heute, über 60 Jahre nach ihrer Veröffentlichung, im schwedischen Bewusstsein präsent“, erklärt Andreas Wahlberg, der Dramaturg der Produktion. „Sie gilt als eines der bedeutendsten Werke der schwedischen Nachkriegsliteratur. Nicht zuletzt dank zahlreicher Adaptionen für die Bühne und Jan Troells mehrfach oscarnominierter Verfilmung (1971–72).“

Innerhalb der vier Bände von „Utvandrarna“porträtiert Moberg das Schicksal einer Gruppe schwedischer Emigrant:innen um Karl-Oskar und seine Ehefrau Kristina, die von Andersson, Ulvaeus und ihrem Co-Librettisten Lars Rudolfsson im Musical zur Titelfigur gemacht wurde. 1850 begibt sich diese Emigrant:innengruppe auf die beschwerliche Reise nach Amerika, um sich dort trotz aller Widrigkeiten – allen voran Sprach- und Kulturbarrieren – ein neues Zuhause aufzubauen. Die Romanvorlage beschreibt dabei nicht nur die Geschichte mehrerer Personen im Verlauf von über 15 Jahren, sie enthält zudem eine Vielzahl von Charakteren und umfasst dutzende verschieden Schauplätze.

Die Geschichte beginnt im südschwedischen Småland, wo die beiden Hauptfiguren Kristina und Karl Oskar mit ihren Kindern ein Leben als Bauern führen. Missernten und Naturkatastrophen machen ihr Dasein dort sehr mühselig – eines ihrer Kinder stirbt sogar vor Hunger. Sie beschließen, zusammen mit anderen Mitgliedern der Gemeinde, teils wegen religiöser Verfolgung, teils wegen fehlender Zukunftsperspektiven, ihre Heimat zu verlassen. Nach einer kräftezehrenden Schifffahrt gelangen sie nach New York, von wo aus es weiter Richtung Westen geht. In Minnesota – einem Bundesstaat, in dem noch heute zahlreiche Nachfahren schwedischer Migrant:innen leben, – finden die Siedler:innen schließlich eine neue Heimat.

Aus einem Historienroman wird ein Musical

Bereits diese knappe Inhaltszusammenfassung macht deutlich, dass Andersson, Ulvaeus und Rudolfsson einen ebenso außergewöhnlichen wie komplexen Stoff für ihr Musical ausgewählt haben, dessen epische Ausmaße an „Les Misérables“ erinnern. Genau wie Boublil und Schönberg bei letzterem Musical stand das Autorenteam bei der Adaption von „Utvandrarna“ vor der Herausforderung, eine umfangreiche Handlung zu einem Bühnenstück zu kondensieren und den Stoff gleichzeitig für ein nicht-schwedisches Publikum verständlich zu machen – das betont auch Regisseur Markus Dietze beim Konzeptionsgespräch zu den anstehenden „Kristina“-Konzerten in Koblenz.

Die fehlende Bekanntheit der Romanvorlage ist vermutlich auch einer der Gründe, warum das in Skandinavien enorm erfolgreiche Musical bislang noch nie in Deutschland zu sehen war. Dem Theater Koblenz ist nun jedoch gelungen, wovon viele ABBA- und Musicalfans schon gar nicht mehr zu träumen gewagt haben: die Rechte an der deutschsprachigen Erstaufführung des Musicals von den Autoren zu erhalten. Schon seit rund drei Jahren laufen die Vorbereitungen für dieses besondere Projekt, in dessen Vorfeld natürlich zunächst einmal eine deutsche Fassung erstellt werden musste. Diese Aufgabe fiel Udo Brinkmann zu, der die Liedtexte ins Deutsche übertrug, während Dramaturg Andreas Wahlberg die Dialoge übersetze.

„Die Arbeit an der deutschen Fassung war besonders spannend, da im Original viel mit dialektal gefärbter Aussprache und regionalen Wörtern gearbeitet wird“, erklärt Wahlberg. „Als Schwede kann man manche Sätze direkt einer småländischen Mundart zuordnen, in der Übersetzung muss man sich aber eher am hochdeutschen Wortschatz orientieren.“ Eine sprachlich korrekte und auch realistische Darstellung der schwedischen Migrant:innenschicksale – auch in der deutschen Übersetzung – ist den Autoren bei diesem Werk ein zentrales Anliegen.

ABBA-Sound trifft auf großes Orchester

Aber natürlich ist es nicht nur die spannende Geschichte, die die Faszination dieses Stücks ausmacht, das seit dreißig Jahren als Geheimtipp unter Musicalfans gilt. Die Musik von Andersson vereint den unverkennbaren ABBA-Sound mit dem schon in „Chess“ zur Perfektion gebrachten Stilpluralismus und einem zeitlosen Orchesterklang. „Als ABBA-Fan ist es für mich eine ganz tolle Sache, dass hier der ABBA-Stil in einen sinfonischen Kontext übertragen wurde“, schwärmt Karsten Huschke, der musikalische Leiter der Produktion. „Der musikalische Anspruch bei ABBA-Songs war schon immer sehr hoch. Sie wirken, weil sie so kompliziert sind, aber als Zuhörer spürt man diese Komplexität nicht.“

Das gilt nicht nur für Klassiker wie „Dancing Queen“, „Super Trouper“ oder „The Winner Takes It All“ – auch im Musical „Kristina“ treffen eingängige Songs auf ein perfekt durchdachtes, hochkomplexes Arrangement. „Die Orchesterarrangements in diesem Stück sind wahnsinnig gut“, betont Huschke. „Wir haben einerseits ein hochsinfonisches Orchesterwerk, das stellenweise wie Dvořák oder Smetana klingt, und trotzdem bleibt es ABBA. Popmusik und Sinfonik werden hier hochprofessionell miteinander verbunden.“

„Man spürt, dass der musikalische Gehalt sehr hoch ist“, ergänzt der Dirigent. „Das gefällt den Solist:innen und dem Orchester, die alle mit Begeisterung mitmachen.“ Dem kann Lorenz Höß nur zustimmen. „Die Nummern sind kurz und abwechslungsreich und sehr unterschiedlich im Charakter“, berichtet der Chordirektor. „Wir haben opernhafte Elemente, filmmusikalische Klänge, aber auch Musical zu singen – und manchmal sind wir ein Backgroundchor.“

Ein Konzert vorab

Bevor am 31. Oktober 2026 die deutschsprachige szenische Erstaufführung des Musicals im Theater Koblenz stattfindet, besteht ab 22. November 2025 die Gelegenheit, die klanggewaltige Musik von „Kristina“ im Rahmen einer konzertanten Voraufführung zu erleben. Schon an diesen „Preview-Konzerten“ werden die Dimensionen des Werks deutlich: 12 Solist:innen – in der Bühnenproduktion nächstes Jahr werden es noch deutlich mehr –, Opernchor, Extrachor und ein großes sinfonisches Orchester erwecken die Welt der schwedischen Migrant:innen aus Småland im Theaterzelt zum Leben.

„Die Konzerte erlauben es uns, uns mit der Ästhetik des Stücks im Vorfeld vertraut zu machen“, erklärt Huschke. „Gleichzeitig machen sie dem Publikum Appetit auf die Produktion im nächsten Jahr.“ Auch Lorenz Höß unterstreicht: „Die Konzerte sind gut zum Anfüttern – zudem wird uns Arbeit in der nächsten Spielzeit vorweggenommen.“ Rund 90 Minuten Musik wurden für die Vorabkonzerte nämlich bereits einstudiert. Zwar noch ohne Bühnenbild und Kostüme, dafür mit dem Orchester direkt auf der Bühne, hat das Publikum so schon diesen November die Möglichkeit, einen ersten Eindruck von der faszinierenden Musik und der brandneuen deutschen Übersetzung des Musicals zu erhalten.

Bereits bei der ersten Stellprobe für die Konzertversion von „Kristina“, die ich besuchen durfte, wurde deutlich, dass dieses Werk etwas ganz Besonderes ist: Den Autoren gelingt es, oft mit nur wenigen Takten komplexe Charaktere zu zeichnen, historische Schauplätze äußerst plastisch zum Leben zu erwecken und die Anstrengungen, aber auch die kleinen alltäglichen Freuden der schwedischen Migrant:innen in ein berührendes musikalisches Gewand zu fassen. In den Vorabkonzerten ab nächster Woche kann sich jeder selbst von den Qualitäten dieses Musicals überzeugen.

Text: Dr. Patrick Mertens
Fotos: Arek Głębocki