Man stelle sich vor, ein enger Angehöriger hätte einen Hasen, der ihn überallhin begleitet. Auf Spaziergänge an der frischen Luft oder in die Kneipe auf ein Feierabendbier. Überlebensgroß, friedlich, gesellig – aber vor allem: für die meisten Menschen unsichtbar.
Eine solche Konstellation bestimmt den Alltag des Mutter-Tochter-Gespanns Veta und Myrtle Mae Simmons. Ihr Bruder und Onkel Elwood P. Dowd macht keinen Schritt ohne seinen „guten Freund“, den Hasen Harvey. In Sorge um das eigene Ansehen, die Heiratschancen der Tochter und ebenso das finanzielle Erbe beschließt Veta, ihren Bruder mitsamt dem vorgestellten Freund in das Sanatorium von Dr. Chumley einzuweisen. Der Plan misslingt durch eine Verkettung von Missverständnissen: Als Veta einräumt, dass auch sie Elwoods Kumpan zuweilen für wahr hält, wird sie an seiner statt zur Therapie aufgenommen. Es folgt ein turbulentes Such-und-Versteckspiel, bei dem Elwood durch unerschütterliche Freundlichkeit auffällt, immer mehr Beteiligte den Hasen Harvey sehen können – und seine positive Wirkkraft letztlich nicht mehr missen möchten.
Die Koblenzer Fassung von Mary Chases Broadway-Komödie „Mein Freund Harvey“ (1944) und dem gleichnamigen Spielfilm (1950) stellt spielerisch die Grenzen von Verrücktheit und Normalität infrage: Eingangs erklärt Dr. Chumley die Funktion der Psychiatrie noch als Unterscheidung „zwischen Individuen, die vernünftig sind, und solchen, die nur vernünftig wirken“. Im Laufe des Abends jedoch zersetzt sich diese Trennschärfe. Ist es wichtiger, glücklich zu sein oder für andere glücklich zu wirken? Was ist pathologisch, was gesellschaftliche Norm? Und welches Verhalten ist gar beides: irgendwie abnorm, trotzdem wünschenswert – quasi positiv pathologisch? Die Inszenierung von Caro Thum lässt ahnen, dass es keine eindeutigen Antworten geben kann, die Zwischenbereiche aber umso mehr faszinieren: „Das Stück erzählt ja eigentlich, dass alle verrückt sind außer Elwood“. Nicht umsonst ist der Nachname des Protagonisten, Dowd, gleichlautend mit doubt, dem englischen Wort für Zweifel.
Die Abkehr von Eindeutigkeiten demonstriert auch das feinteilige Bühnenbild. Auf der Drehbühne gibt es schon aus räumlichen Gründen eine sichtbare und eine unsichtbare Welt: materialisiert in zwei gespiegelten Zimmern – Wohnhaus und Sanatorium –, die durch Maueröffnungen, Türen und Klappen durchlässig bleiben und zugleich ein Außen konstruieren. Zum einen ist da der Garten des Sanatoriums, stilisiert mit neongrellen, überdimensionalen Printblumen und Bäumen. Zum anderen ein kleiner Zwischenraum, der mit groben, unverkleideten Bauelementen seltsam unbestimmt bleibt. Er entzieht sich einer eindeutigen Lesbarkeit, doch gleicht einer Hinterbühne und fungiert mithin als Metakommentar: Auch im Theater gibt es neben der Vorderbühne den Offstage-Bereich; fürs Publikum versteckt und trotzdem unverzichtbar. Das abendleitende Changierspiel zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit agiert auf allen Ebenen.
Die Sichtbarmachung des Hasen auf der Bühne, so Thum, ist Folge einer Frustrationserfahrung im Kindesalter. Im Spielfilm nämlich bleibt Harvey eine optische Leerstelle: „Ich war damals wahnsinnig enttäuscht, dass ich ihn nicht sehen konnte. Ich fand den Film zwar toll, aber dachte: Wo ist denn jetzt der Hase? Vor allem, da es irgendwann heißt, die Sichtbarkeit sei nur fantasievollen Personen beschieden“. Einer solchen Enttäuschung wird konsequent entgegengewirkt. Das schauspielerische Spiel mit Luft, wie es der Film zeigt, nutzt sich als Prinzip auch schnell ab: Dort hält Elwood Türen auf, ohne dass jemand hindurchgeht, winkt einem leeren Stuhl in der Kneipe zu oder spricht de facto mit der Wand. Abendfüllend wäre das zu viel von zu wenig. Lässt sich doch Theater vom altgriechischen théatron ableiten, der Schaustätte. Die Gefahr, enervierend zu wirken, hätte aber auch die dauerhafte Anwesenheit von Harvey auf der Bühne. Wer wann den Hasen sehen kann, wandelt sich im Laufe des Abends deshalb immer wieder.
Doch damit nicht genug. In Thums Inszenierung wird das tierliche Figurenarsenal kurzerhand erweitert. Die Idee dahinter: Von früheren Patient*innen wurden alle möglichen Tiere im Sanatorium zurückgelassen, nachdem sie von den Materialisierungen ihrer Fantasie mithilfe von Spritzen (vermeintlich) geheilt waren. „Ich hab ursprünglich sogar gedacht, dass jede Figur ein Tier hat. Doch dann wurde mir klar: Das wäre ein Heidenchaos! Und ist auch nicht wirkungsvoll. Dafür müssten die Tiere die ganze Zeit etwas tun“, so die Regisseurin. Am Ende fanden neben dem Hasen Harvey ein Eisbär, ein Schuhschnabel und ein kleiner Fisch im Aquarium ihren Weg ins Stück. Diese Addition deckt ein breites Spektrum tierlichen Lebens ab: Wasser, Land und auch Luft als Lebensraum, Wärme und Kälte, verschiedene Kontinente des globalen Nordens und Südens.
„Man kann sich ja vorstellen, die ganze Welt ist voller Pukas!“ Der Glaube an Puka-Figuren entstammt der keltischen Mythologie. Also recherchiert der Sanatoriumsgehilfe Wilson in einem Lexikon: „Ein Zauberwesen, tritt immer in der Gestalt von Tieren auf. Ein Puka erscheint dann und wann, hier und da, je nach seiner Laune“. Die Gestaltwechsler*innen sind auch funktional wandelbar, treiben manchmal Schabernack mit Menschen oder werden zu ihren Ratgeber*innen. Dass die Macht der Vorstellungskraft zentral ist, weiß das Lexikon auch: „Häufig erscheint es Träumern und befreundet sich mit Fantasten“.
Eine weitere magische Wirkung liegt in der unbedingten Freundlichkeit, die Elwood verkörpert und damit nach und nach die Figuren um sich herum ansteckt. „Die glücklichste Figur im Stück ist Elwood. Er lebt in den Tag hinein, ist zu jedermann freundlich. Er macht, was er möchte, ohne anderen Leuten wehzutun. Und der große weiße Hase macht ihm Freude. Er hat keinen Leidensdruck. Den Leidensdruck haben nur die vermeintlich Normalen“, so beschreibt Thum das Phänomen. Elwood teilt im Stück ein denkwürdiges Bonmot: „In dieser Welt muss man entweder sehr klug sein oder sehr freundlich. Jahre lang bin ich nur klug gewesen, heute bin ich freundlich“.
Der Probenbesuch bei „Mein Freund Harvey“ offenbart letztlich auch die Krux von Komödien im Entstehungsprozess: Lustigsein ist harte inszenatorische Arbeit. Timing und eine präzise Choreografie von Bewegungen und Äußerungen sind zentral. Der Grad der Überzeichnung und die (Un-)Kenntlichmachung humoristischer Referenzen erfordern Feingefühl. Mal ist weniger mehr, mal ist mehr mehr. Abnutzungserscheinungen von bestimmten Spielideen müssen antizipiert werden. Szenenübergänge werden unzählige Male wiederholt, bis sie schließlich den gewünschten Effekt erzielen: Wenn etwa Oberschwester Ruth Kelly und der Psychiater Dr. Sanderson ihre Suche nach den verschwundenen Elwood und Harvey unterbrechen, um einen romantischen Tanz im Discolicht zur Slapstick-Szene verkommen zu lassen und vordergründig Dilettantismus in Reinform auszustellen: So ist auch diese tollpatische Körperlichkeit Ergebnis eines äußerst kleinteiligen Prozesses.
Mrs. Tewsbury, die singende Kommentatorin der Inszenierung, mischt sich währenddessen immer wieder mit popmusikalischen Assoziationen ins Geschehen ein. Mit einer Referenz aus dem Lied „White Rabbit“ (1967) der Rockband Jefferson Airplane stellt sie den Abend unter ein Motto, das es zu widerlegen gilt: „And if you go chasing rabbits, you know you’re going to fall“.
Text: Katharina Alsen
Fotos: Matthias Baus