Ewe Benbenek wurde 1985 im polnischen Kamienna Góra geboren, als Kind kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland. In ihrem Stück „Tragödienbastard“ thematisiert sie die Fremdheitserfahrungen als Migrantin – und wurde dafür unter anderem mit dem renommierten Stücke-Preis in Mülheim ausgezeichnet. Ein Gespräch mit der Regisseurin der Deutschen Erstaufführung in Koblenz, Marie-Theres Schmidt, und Dramaturgin Juliane Wulfgramm.
Der Titel „Tragödienbastard“ führt ein bisschen auf eine falsche Fährte. Eine echte Tragödie ist das ja gar nicht.
Marie-Theres Schmidt: Ich würde sagen, dass es hier eher um den Bastard einer Tragödie geht. Die Autorin Ewe Benbenek hat mal erzählt, dass sie sich überlegte: Wie würde eine Tragödie heute aussehen? Wie würde man da sprechen?
Juliane Wulfgramm: Benbenek hat sich im Studium viel mit Tragödien beschäftigt, eigentlich wollte sie Euripides’ „Bakchen“ überschreiben. Zuerst hatte sie vor, das ganze Stück chorisch zu gestalten, aus der Tragödie den Chor zu nehmen. Daher der Titel.
Wo wir schon vom „Bastard“ sprechen: Im Zeitungslayout gibt es den Begriff des „Hurenkindes“, das bezeichnet ein bisschen altmodisch eine Spalte, die mit einem Absatzende beginnt. Der Gedanke dahinter ist, dass das „Hurenkind“ nicht weiß, wo es herkommt – und die migrantische Protagonistin aus dem Stück tut sich da auch schwer.
Schmidt: Auf jeden Fall. Jemand, der nicht weiß, wo er herkommt, der nicht weiß, wo er dazugehört – das wird im Stück offensiv verhandelt. Aber es gibt auch den bastardhaften Umgang mit Sprache. Die Autorin nimmt sich, was sie gerade braucht, sie ergänzt, sie überschreibt, auch sich selbst, sie findet einen freien Umgang, bei dem man sagen könnte: Das ist doch gar kein richtiges Deutsch! Schreib’ doch mal in ganzen Sätzen!
Wulfgramm: Ein unreines Deutsch, ein dreckiges Deutsch. Außerdem gibt es ein paar polnische Passagen, und das ist dann ein verschriftliches Sprachpolnisch, kein Hochpolnisch. Das ist keine reine Form und keine reine Sprache.
Aber die Sprache ist ganz streng komponiert, man muss sie auch ernstnehmen.
Schmidt: Ja, die Sprache ist die Protagonistin. Das ist ein Stück über Text, über das Sprechen, über die verschiedenen Zugänge zu Sprache und Text. Wir haben immer wieder überlegt, wo man was streichen, was rausnehmen kann, aber man ist so an den Rhythmus gebunden, dass wirklich jedes Wort seinen Sinn hat.
Bei Benbenek sind drei Schauspielerinnen angelegt. Aber ist das im Grunde nur eine Figur?
Schmidt: Oder es sind ganz viele. So, wie es ein Stück über Sprache ist, ist es auch ein Stück über Stimmen: Es spricht ein vermeintliches „Ich“, das man über diese drei Figuren als Facetten einer Figur begreifen kann. Aber es werden noch mehr Leute anzitiert – zu Beispiel wird von der „Armee von Schwestern“ gesprochen.
Bei der Uraufführung am Schauspielhaus Wien wurden diese Figuren von zwei Frauen und einem Mann gespielt. In Koblenz spielen drei Frauen, das sorgt bei mir als Zuschauer dafür, dass ich mich nicht so leicht distanzieren kann.
Schmidt: Wir haben das gerade deswegen entschieden, damit jede dieses „Ich“ sein kann. Wenn da ein Mann besetzt wäre, dann wäre der für mich wesentlich weiter weg von der Figur. Aber wir haben zum Beispiel verschiedene Altersstufen besetzt …
Ja, Raphaela Crossey, Jana Gwosdek und Isabel Mascarenhas sind drei ganz unterschiedliche Typen.
Schmidt: … und damit wollten wir sagen: Wir stellen nicht einen möglichst einheitlichen, uniformen Typen dar und ziehen zum Beispiel alle gleich an, setzen ihnen Masken auf oder so.
Nicht nur die drei Darstellerinnen sind weiblich gelesen, auch Regie, Bühne, Kostüm, Dramaturgie.
Schmidt: Das ist reiner Zufall!
Geht es in dem Stück nicht auch um Weiblichkeit?
Schmidt: Ja, es geht um Weiblichkeit, vielleicht eher Femininität und Sexismus wird ebenfalls verhandelt.
In einer Szene wird die Weiblichkeit zunächst ein bisschen gefeiert, mit dem Klack-Klack der High Heels. Aber dann gibt es einen Bruch, dann heißt es: Es geht gar nicht nur um High Heels, es gibt auch ein Rumms-Rumms.
Wulfgramm: Gerade dieses Klack-Klack, Rumms-Rumms, das ist ja auch ein Statement: Ich bin jetzt hier! Wir nehmen uns das einfach! Wir gehen in die Bar, egal, ob wir rein dürfen oder nicht!
Schmidt: Spannend ist diese Welt, in die die Figur eigentlich nicht reingehört. Sie landet in einer Bar, und dort wird das Feiern von Weiblichkeit der erfahrenen Ausgrenzung entgegengesetzt. Und angesichts des fehlenden sozialen Kapitals entsteht Klassenbewusstsein.
Die Figur will erst in diese Schicki-Bar, und sie kommt auch rein, aber wo ist sie da eigentlich? An einem ziemlich blöden Ort! Und sie findet es auch selbst nicht mehr so toll. Sie sieht: Die anderen Leute hier interessieren mich gar nicht.
Wulfgramm: Aber sie entscheidet das selbst. Nicht andere entscheiden, dass sie da nicht hingehört, sie sagt, dass das ein blöder Ort ist, und geht dann einfach wieder. Das ist hier ein entscheidender Punkt.
Das Bühnenbild besteht aus einem großen Bett. Dieses Bett steht auf Büchern, und zwar auf ganz bestimmten Büchern: „Rückkehr nach Reims“, „Spricht die Subalterne Deutsch?“, „Das Kapital lesen“ … alles neomarxistische Soziologie. Das steht so nicht im Stück, das ist eure Setzung?
Schmidt: Ja, diese Buchtitel sind entstanden, weil wir uns im Vorfeld gemeinsam überlegt haben, an was uns der Stoff erinnert. Und da tauchten Begriffe auf wie „Klasse“, „Migration“, „Feminismus“ …
Wulfgramm: Tragödientheorie! (lacht)
Schmidt: Und außerdem haben wir uns überlegt: Die Protagonistin hat die Welt der Oma in Polen, sie hat die Welt der Eltern in den Fabriken, und was ist dann ihre eigene Welt? Sie ist aufgestiegen, ausgebrochen, hat vielleicht studiert – womöglich hat sie diese Bücher zu Hause?
Wulfgramm: Diese Bücher sind ein Fundament. Das Bett ist für die Protagonistin ein Rückzugsort, auch ein Ort für eine Depression, und dieses Bett ruht auf den Büchern. Die Sprache – jetzt sind wir wieder bei der Sprache! – ist zu ihrem Fundament geworden.
Die Figur hat eine Migrationserfahrung gemacht, und diese Migration hat eine Verletzung ausgelöst, die nicht geheilt wurde.
Wulfgramm: Es geht darum, dazuzugehören. Und diese Mühe, diese Arbeit und diese Anstrengung, das ist ein großes Thema.
Schmidt: Nicht die Migration hat die Verletzung ausgelöst, es ist das Wahrnehmen einer migrierten Person durch die dominante Mehrheitsgesellschaft, die Verletzungen bereitet.
Ist es eigentlich in Ordnung, über Migration zu sprechen, wenn weder das Regieteam noch die Darstellerinnen einen Migrationshintergrund haben?
Schmidt: Es stimmt schon, wir haben uns gefragt, ob wir, die wir keine so prägende Migrationserfahrung haben, einen anderen Zugriff finden können, zum Beispiel aufgrund unserer Klassenzugehörigkeit, aufgrund dessen, dass wir teilweise Arbeiterkinder sind. Es ist komplett berechtigt, zu sagen: Man hätte noch jemanden im Team haben müssen, die davon mehr erzählen kann. Aber das Stück erzählt so gut – wir sollten der Migrationsgeschichte gerecht werden, wenn wir dem Stück gerecht werden.
Einen Satz aus dem Stück halte ich für sehr relevant. „Wenn es um Geschichten geht, die man gerne mal ,Migrationsgeschichten‘ nennt, die man gerne mal ,Migrationsbiografien‘ nennt, dann gibt es, dann gibt es da doch jetzt echt wichtigere zu erzählen als die meine, oder?“ Daraus schließe ich, dass es in dem Stück eigentlich darum geht, zu sagen: „Doch! Deine Geschichte IST die wichtige!“
Schmidt: Es müssen alle Geschichten erzählt werden. Einfach alle. Wenn einem der Raum gegeben ist, dann sollte man erzählen. Vor allem, wenn man ansonsten nicht repräsentiert ist.
Wulfgramm: Wir haben uns lange mit Ewe Benbenek über autofiktionales Schreiben unterhalten. Sie hat ja einen Migrationshintergrund, sie sagt auch, dass sie Diskriminierung erfahren hat – aber sie hat nie Rassismus erfahren. Da gibt es also immer noch diese Unterschiede. Ein bisschen heißt das dann auch: Darf ich erzählen, wo anderen viel schlimmere Dinge widerfahren sind? Und das beantworten wir alle mit „Ja“.
Interview: Falk Schreiber
Fotos: Isa Steinhäuser