Doch was genau ist ein Oratorium eigentlich und vor welche Herausforderungen stellt diese Gattung heutige Theater bei einer szenischen Umsetzung?
Unter einem Oratorium versteht man ein geistliches Werk mit dramatischer Handlung, das im Gegensatz zur Oper (in der Regel) nicht szenisch, sondern lediglich konzertant aufgeführt wird. Was jedoch nicht heißt, dass, gerade in der Barockzeit, Oratoriums-Vorstellungen nicht auch mit prunkvollen Szenenbildern und üppigen Kostümen gegeben wurden. Der aus Deutschland stammende Händel lernte diese Gattung 1706–1709 während seiner Zeit in Rom, dem Zentrum des italienischen Oratoriums, kennen. Papst Innozenz XII. und sein Nachfolger Clemens XI. hatten hier einige Jahre zuvor ein Aufführungsverbot von Opern erlassen, sodass für die prunkliebende und vergnügungssüchtige Römische Aristokratie Oratorien eine der wenigen Möglichkeiten darstellten, musikdramatische Werke zu genießen. Nach einigen frühen Versuchen widmete sich Händel während seiner Zeit in London dann intensiver dieser Gattung und begründete mit mehr als zwanzig Werken die englische Oratoriums-Tradition.
Händels Beschäftigung mit dem Oratorium in England war dabei eigentlich eher aus der Not heraus geboren: Seine langjährigen Bemühungen um die Etablierung und Pflege der Italienischen Oper in London scheiterten mehrfach aufgrund mangelnden Interesses des dortigen Publikums, weswegen er sich anderen, publikumswirksameren Gattungen zuwandte. Und Oratorien erfreuten sich, wie Händel an seinen eigenen Kompositionen feststellte, in London größter Beliebtheit. Dass die Engländer eine derartige Affinität zu Händels Oratorien entwickelten, liegt zum einen daran, dass Händel die Werke nicht auf Italienisch, sondern in der Landessprache Englisch komponierte. Außerdem kam dem Chor eine deutlich gewichtigere Rolle als in den meisten Opern zu, sodass Händel in seinen Oratorien ausgiebig auf die anglikanische Chormusiktradition mit ihren zahlreichen Anthems und Hymns zurückgreifen konnte. Schließlich hatte das englische Publikum darüber hinaus eine große Vorliebe für alttestamentarische Stoffe, da sich die Briten gerne mit Israel, dem von Gott auserwählten Volk, identifizierten und im Sujet vieler Oratorien eine (göttliche) Legitimierung für die eigene imperiale Expansions- und Kolonialpolitik sahen.
Auch auf Händels „Saul“ lässt sich eine solche zeitpolitische Lesart anwenden: Grundlage der Handlung bildet das Erste Buch Samuel, in dem die Geschichte Sauls, des ersten König Israels, erzählt wird. Dieser verfällt aus Neid gegenüber dem jüngeren und im Kampf gegen den Riesen Goliath siegreichen David zunehmend dem Wahnsinn. Im Verlauf der Handlung wird Saul mehr und mehr bewusst, dass Gott ihm seine Herrscherlegitimation entzogen hat, ehe er nach seinem Selbstmord schließlich durch David als neuem König ersetzt wird. Die Parallelen zur britischen Geschichte sind augenfällig: Rund zwanzig Jahre vor Händels Ankunft in London hatte das Parlament im Zuge der Glorious Revolution 1689 die britische Krone William und Mary angeboten, nachdem man den (katholischen) James II. nicht mehr als geeignet zum Herrschen empfand. Das zeitgenössische Publikum hat diesen Verweis sicherlich problemlos verstanden – doch wie sieht es mit Zuschauerinnen und Zuschauern heute aus?
Welche Relevanz hat ein Stoff wie „Saul“ für ein heutiges Publikum?
Operndirektorin und Regisseurin Anja Nicklich musste sich genau diese Frage stellen, als sie mit „Saul“ zum ersten Mal seit mehr als zehn Jahren ein barockes Bühnenwerk ans Koblenzer Theater bringen wollte. Nicklich hat sich entschieden, das Stück aus der Sicht Sauls in Form eines Rückblicks zu inszenieren. „Wir erzählen die Geschichte von Saul als ein zeitloses Familien-Psychogramm“, schreibt Nicklich entsprechend in ihrem Regiekonzept. Der vom Wahnsinn zerfressene Saul sitzt in ihrer Inszenierung in seinem Palast mit seinen Kindern beim (letzten) Mahl, wissend dass er bald sterben wird, und erinnert sich an die Ereignisse, die zu seinem Tod führen werden. Seine Bediensteten nehmen in seinem Wahn die Rollen von Volk, Soldaten u. Ä. ein, während sich die gesamte Handlung des Oratoriums im Speisesaal des Königs entfaltet.
„Ich möchte nicht den biblischen Kontext erzählen“, erklärt Nicklich, „sondern den Wahn eines Königs, der die Gnade Gottes verloren hat.“ Durch die Anlage großer Familienszenen arbeitet die Regisseurin die psychologischen Zusammenhänge und Personenführung besonders heraus. „Was bedeutet Macht? Was bedeutet Kontrollverlust?“, benennt Nicklich die Kernthemen des Stücks, die – gerade bei einem Blick auf die aktuelle Weltpolitik – nach wie vor von größter Relevanz sind. Um diese Aussage hervorzuheben, hat sich Nicklich entschieden, am Ende des Werkes zu zeigen, wie der Wahnsinn Sauls auf den neuen König David übergeht. Trotz Jubelchores wird szenisch ein Bogen zum Beginn des Oratoriums geschlagen und David übernimmt mit der Krone auch den Wahnsinn seines Vorgängers.
Doch nicht nur inhaltlich stellt das Oratorium Aufführende wie Regisseurin vor besondere Herausforderungen – das Genre selbst ist bei einer szenischen Umsetzung mit allerlei Fallstricken verbunden.
„Das große Problem beim Oratorium ist“, so Nicklich, „dass es keine theatralen Szenen gibt, weder musikalisch noch vom Libretto her.“ Tatsächlich besteht „Saul“, das wie alle Händel-Oratorien ursprünglich nicht für eine szenische, sondern für eine konzertante Aufführung vorgesehen war, neben den Chornummern fast ausschließlich aus Arien. Eine Interaktion zwischen Personen findet kaum statt – lediglich zwei Duette hat Händel vorgesehen. „Die große Herausforderung ist, eine theatrale Szene zu entwickeln“, resümiert Nicklich. „Dieses Stück war in der Vorbereitung das schwierigste, das ich in meiner zwanzigjährigen Laufbahn als Regisseurin konzipiert und umgesetzt habe. Das Erfinden von theatralen Vorgängen innerhalb eines Oratoriums ist vor allem schwierig, weil Zwischenmusiken fehlen, die sonst komponiert sind.“ Für komplexe Handlungsabläufe hat die Regisseurin nur sehr wenig Zeit, sodass jedes Detail der Inszenierung genau sitzen muss – ganz Ähnliches gilt für die musikalische Umsetzung des Werkes durch Sänger und Orchester.
Denn barocke Kompositionen stellen, wie die Probenarbeit an „Saul“ gezeigt hat, Interpreten vor ganz ungeahnte Schwierigkeiten, die bereits beim Notentext beginnen.
„Der Notentext enthält kaum Bezeichnungen zur Interpretation“, erklärt der musikalische Leiter Felix Pätzold. „Man muss sich die Interpretation aus musikalischen Lehrwerken der Händel-Zeit erschließen. Zudem herrschte damals eine ganz andere Verzierungspraxis, an die man sich beim Proben erst gewöhnen muss.“ Darüber hinaus unterscheidet sich natürlich auch die Orchesterbesetzung bei einem barocken Oratorium merklich von Werken der Klassik oder Romantik. Für das Orgelsolo in der Ouvertüre von „Saul“ musste beispielsweise eigens eine Truhenorgel ausgeliehen werden, während Davids Harfensoli auf einer speziell hierfür gemieteten Barockharfe gespielt werden. Außerdem müssen von der musikalischen Leitung diverse Entscheidungen zu Besetzung und Instrumentation getroffen werden. „Unsere Continuo-Gruppe [gemeint sind die Generalbass-Instrumente] besteht aus Cembalo, Orgel, Laute und Cello“, berichtet Pätzold. „Für eine abwechslungsreiche Gestaltung der Rezitative spielen diese Instrumente jedoch nicht immer gleichzeitig, sondern teils situationsbedingt, teils den Charakteren zugeordnet.“
Nicht nur für die Instrumentalisten, auch für die Sängerinnen und Sänger ist die Barockproduktion mit vielen neuen Herausforderungen und besonderen Ansprüchen verbunden.
So erklärt Chordirektor Lorenz Höß, dass es sich bei „Saul“ um das schwierigste Stück dieser Spielzeit für den Chor handele – entsprechend proben Opernchor und Extrachor, der ebenfalls an der Produktion beteiligt ist, bereits seit Ende August für das Oratorium. Schon allein aufgrund der hohen technischen Anforderungen von Händels Musik ist eine derart umfangreiche Vorbereitung unerlässlich. „Der Notentext enthält keinerlei Angaben zu Dynamik oder Phrasierungen“, berichtet Höß. Gleichzeitig gebe es enorm viele Affekte und Emotionen, die es herauszuarbeiten gilt. „Jeder Satz braucht seinen eigenen Zugang“, so Höß. „Alles muss sehr kontrolliert gesungen werden. Händels Musik ist wie ein Barockgarten; alles hier ist genau abgezirkelt.“
Mit welch großem Personalaufwand die „Saul“-Produktion in Koblenz verbunden ist, zeigt sich schließlich daran, dass neben Solisten, Chor, Extrachor und Orchester auch das Ballett in die Inszenierung des Oratoriums eingebunden ist.
„Wir spiegeln das Seelenleben Sauls wider“, beschreibt Choreograf und Ballettdirektor Steffen Fuchs die Aufgabe der Tänzerinnen und Tänzer innerhalb des Oratoriums. Das Ballett verkörpert in manchen Szenen Furien, in anderen „Hieronymus-Bosch-hafte Wesen, die den König in den Wahnsinn treiben“, wie in Nicklichs Regiekonzept zu lesen ist. Fuchs erklärt, dass das Ballett relativ autonom (aber natürlich immer in enger Rücksprache mit der Regisseurin) gearbeitet hat. Alles zusammengefügt wurde jedoch erst bei der Klavierhauptprobe, sodass nun durch den Tanz ein Blick in die Innenwelt von Sauls Kopf möglich ist. Mit dieser besonderen Inszenierungsidee bietet der Koblenzer „Saul“ einen ganz eigenen Zugang zum Stoff des Oratoriums und unterstreicht wirkungsvoll dessen Relevanz für ein heutiges Publikum.
Egal ob in der Konzeption, der musikalischen Arbeit, dem Zusammenspiel von Musik, Gesang und Tanz oder der großen Personalstärke, mit dem Barockoratorium „Saul“ zeigt das Theater Koblenz ein für Mitwirkende wie Publikum neues, in dieser Form lange nicht mehr dargebotenes Genre, das für das gesamte Team mit spannenden Herausforderungen verbunden war. Das Publikum hat mit „Saul“ dabei nicht nur die Möglichkeit, wieder einmal eine abendfüllende Barockkomposition auf der Koblenzer Bühne zu erleben, die erschreckend-zeitlose Relevanz des Werkes, die Nicklich mit ihrer Inszenierung bewusst herausarbeitet, unterstreicht zudem deutlich, wie aktuell der Stoff auch für unsere heutige Zeit ist.
Text: Musikwissenschaftler Patrick Mertens
Fotos: Matthias Baus