Reality-TV aus Güllen: Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt

09. September 2025 · Gesa Füßle

Gesa Füßle lektoriert Aktuelles und entziffert Altes. Eigentlich zuhause in Hamburg, landete sie in Güllen – und nimmt uns mit auf ihre Entdeckungsreise.

Willkommen in der Multifunktionshalle von Güllen! Das Bühnenbild ist karg, denn bei der verfrühten Ankunft der reichsten Tochter der Stadt ist die Festhalle leider noch nicht ganz fertig geschmückt. Immerhin hängt das Willkommensbanner, die Kläri wird sofort bemerken, wie sehr wir uns über ihre Ankunft freuen. Ja, wir nennen sie Kläri, auch wenn sie eigentlich Claire Zachanassian heißt. Man kennt sich eben. Innen hängt ein Foto von ihr, wie sie der Stadt in Erinnerung geblieben ist: jung, feurig, rauchend, wild. Man kann sich vorstellen, dass alle in sie verschossen waren. 

Also nichts wie hin zu ihrer Begrüßung, denn man kann die Geldberge der Dame schon um die Ecke winken sehen. Kaufen Sie sich noch schnell ein Paar Schuhe auf Pump, das ist gar kein Problem. Kläri wird ihre Heimatstadt nicht hängenlassen, warum sollte sie auch? Sie gehört zu uns, ein einfaches Mädchen, das es zu etwas gebracht hat. Da kann man ihr nur gratulieren, und uns als Bewohner:innen ihres Heimatorts ebenso, denn wer zurückkehrt, beweist eine gewisse Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Ort hat man nur, wenn man sich dort wohlgefühlt hat. Kein Wunder, es ist ja auch wirklich schön in Güllen, vom Renovierungsbedarf mal abgesehen. Die rechtschaffenen Bürger:innen stehen für die Schönheit der Stadt!

Sie merken es schon: Von Anfang an wird das Publikum ins Geschehen hineingezogen. Dieses Stück ist kein Frontalunterricht mit moralischer Belehrung, sondern eine stadtumfassende Gewissensfrage. Atmosphärisch stimmig befinden wir uns in der Stadt- und Kongresshalle von Vallendar, man sitzt beisammen wie bei jeder anderen stadtinternen Angelegenheit. Keine Gelegenheit, beim Starren auf die Bühne Nackenprobleme zu bekommen, der Hals bleibt beweglich und wendet sich der Handlung in allen Richtungen zu. Es gibt kein Hinten und Vorne, es gibt nicht „die besten Plätze“, wir sind alle gleich und können uns aussuchen, ob wir staunend auf die Live-Übertragung der Leinwand starren oder die Handelnden mit den Augen durch den Raum verfolgen. Wer gern zum Ausruhen ins Theater geht, ist hier falsch, bei diesem Stück wird mitgedacht. Sehen und Gesehenwerden hingegen, das lässt sich hier hervorragend praktizieren. Putzen Sie sich heraus, es lohnt sich!

Die gealterte Claire Zachanassian kehrt zurück in ihre Heimatstadt, die sie als junges Mädchen verließ. Schwanger war sie, musste sich mehr schlecht als recht durchschlagen. Aber sie hat es geschafft. Inzwischen ist sie Multimilliardärin. Böse Zungen behaupten, sie habe ihre Ehemänner – sie ist am Anfang des Stücks beim Gatten Nummer 7 angekommen – ausgenommen, doch mal Hand aufs Herz, wie viele Frauen kennen Sie, die nach der Scheidung reicher waren als vorher? Da gehört schon einiges dazu!

Als klassische Schullektüre dürfte der Inhalt des Stücks vielen schon einmal über den Weg gelaufen sein. Es geht um die späte Rache einer verstoßenen Frau, um nichtvorhandene Geschlechtergerechtigkeit und nicht zuletzt natürlich auch um Geldgier. Vor allem aber geht es darum, dass sich manche Dinge eben nie ändern. Als Frau kann ich nur jubilieren, wenn Claire der Stadt den Spiegel vorhält, auch wenn die Bewohner:innen alles daran setzen, nicht hinzusehen. Die Stadt Güllen hatte in Claires Jugend überhaupt kein Problem damit, die junge Frau aus der Gemeinschaft zu verstoßen. Und Claire hatte wirklich alles versucht, inklusive Vaterschaftsklage. Aber vergeblich. Der Vater des ungeborenen Kindes, Alfred Ill, heiratete lieber die wohlsituierte Krämerstochter Mathilda und ließ Claire fallen wie eine heiße Kartoffel. Reich ist er jetzt allerdings ebensowenig wie der Rest des Ortes. Man schreibt an, denn schließlich wird Kläri über der Stadt bald Geld regnen lassen, sie ist doch eine von uns und möchte uns helfen, das tut doch eine gute Patriotin, davon kann man doch fest ausgehen, und vielleicht brauche ich auch noch eine neue Handtasche zu den neuen Schuhen.

Haben Sie übrigens in letzter Zeit Luise gesehen, dieses junge Ding? Dieses Früchtchen sieht man jetzt immerzu mit diesem reizenden jungen Mann durch Güllen tollen, dabei ist der verlobt, was soll man denn davon halten? Schamlos geradezu, was denkt die sich nur?! Das wird noch böse enden. Die Jugend von heute hat überhaupt keine Vorstellung mehr, was sich schickt. Herr Ill hingegen, unser zukünftiger Bürgermeister, wie der die Kläri nach all den Jahren noch immer angeschmachtet hat, das war doch irgendwie süß. Sogar die Kosenamen wusste er noch. Damals hatte sie nur Augen für ihn. Trotzdem – seit ihrem großzügigen Angebot ist er kaum wiederzuerkennen, guckt wie ein verschrecktes Kaninchen und wittert überall Gefahr. Man bekommt fast das Gefühl, er leide unter Verfolgungswahn, dabei haben wir das Angebot selbstverständlich abgelehnt, man spielt doch nicht mit Menschenleben, was denkt der nur von uns? Wir wissen doch, was ethisch korrekt ist. Für eine Milliarde sollen wir ihn umbringen, weil Kläri ihm sein Verhalten von damals noch immer übelnimmt. Die Hälfte des Geldes würde auf die Einwohner:innen verteilt werden. Eine ziemliche Summe für jede Person, man könnte mehr als nur die Schulden bezahlen, was für ein Leben wäre das!

Das war seinerzeit nun wirklich nicht die feine Art vom Herrn Ill. Aber was hätte er denn machen sollen? Ein junges Mädchen aus so einem verkrachten Haushalt heiraten? Nur weil sie nicht aufgepasst hat? Und nun hat sie doch Geld, was soll dieser männerfeindliche Rachefeldzug, das ist doch alles längst verjährt, ihr geht es besser als allen von uns, ein steiniger Weg ist schließlich nicht schlimm, wenn am Ende die Diamanten blinken. Wenn sie den Ort nicht verlassen hätte, wäre sie heute genauso arm wie wir und es gäbe niemanden, der uns aus der Misere ziehen könnte.

Wo war ich? Ach ja, das Stück. Das Publikum wird ins Geschehen hineingezogen, hatte ich gesagt. Wir sehen Reality-TV vom Feinsten auf den Leinwänden, man weidet sich an den Verfehlungen der anderen und weiß, ganz wie beim Fußball, ohnehin alles besser. Wer je Sehnsucht nach moralischer Überlegenheit hatte, ist hier goldrichtig. Seien Sie live dabei, wenn die Gerechtigkeit siegt! Als Einwohner:in von Güllen haben natürlich auch Sie ein Mitspracherecht, wie mit dem Angebot der Milliardärin umzugehen ist. Manchmal muss man eben Opfer bringen, wenn man Aufschwung will. Auf jeden Fall sollte man sich mit der Vergangenheit der Menschen beschäftigen, die sich zum Bürgermeister aufzuschwingen versuchen. Die moralisch richtige Entscheidung liegt auf der Hand, n’est-ce pas? (Ich lerne jetzt Französisch, das ist mondän, das macht man heute so.)

Der Schluss des Stücks ist so überraschend wie grundlogisch. Claire entpuppt sich als echtes girl’s girl. Wer auf Tiktok (das ist ein Ableger dieser sozialen Medien) unterwegs ist, kennt den Begriff. Ein girl’s girl unterstützt und respektiert die eigenen Geschlechtsgenossinnen, ist eine Verbündete und stellt keinem anderen Mädchen ein Bein. Claire weiß, dass sich manche Dinge nicht geändert haben und vielleicht nie ändern werden. Sie handelt entsprechend, immer in der Hoffnung, dass die Welt irgendwann doch aus ihren Fehlern lernen wird. Wenigstens ihre eigene Heimatstadt könnte dazulernen und ihr Spiel durchschauen. Claire ist allerdings vernunftbegabter als alle anderen im Ort, auch wenn man bei ihrem extravaganten Benehmen direkt nach ihrer Ankunft daran Zweifel gehabt haben mag. Manchmal ist es nur eine offene Rechnung, die eine Person an einen Ort zurücktreibt. Sehnsucht ist es in ihrem Fall nicht. Sie lässt die Güllener ins geladene Gewehr rennen und ist keineswegs vom Ergebnis überrascht.

Die Bürger:innen von Güllen werden mit der Schande ihrer Entscheidung leben müssen, Sie als Publikum dürfen wieder nach Hause gehen. Glück gehabt.

Ich hingegen fahre wieder zurück nach Hamburg und freue mich auf den nächsten Besuch vom Theater Koblenz. Weiterhin in Ausweichspielstätten, weil ein Rückumzug ins Gebäude wegen der Menge an Technik nur in der Sommerpause stattfinden kann. Wenn das Theaterensemble unter Regie von Caro Thum es aber schafft, eine ihm bisher unbekannte Spielstätte so perfekt in ein Stück zu integrieren, kann ich darüber nicht unglücklich sein. Immersiv nennt man das, wenn man in eine fiktive Welt eintaucht. „Mittendrin statt nur dabei“, um an dieser Stelle noch schnell eine alte Fernsehsportkanal-Werbung zu zitieren. Die Frage ist, was eigentlich fiktiv daran ist.

Text: Gesa Füßle
Fotos: Matthias Baus