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Anarchisches Spektakel

13. Juni 2023 · von Christina Körner

Kulturwissenschaftlerin Christina Körner hat bei einer Probe in Koblenz Moselweiß zahlreiche Hintergrundinformationen zu dem Open-Air-Musical gesammelt.

Zahlreiche Hintergrundinformationen zu dem Open-Air-Musical „Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten“, das nach einem Hörspiel von „Hoffmanns Comic Teater“ und Livemusik von „Ton Steine Scherben“ nach der Musik von Rio Reiser und R.P.S. Lanrue aufgeführt wird, hat Kulturwissenschaftlerin Christina Körner bei einer Probe in Koblenz Moselweiß gesammelt.

Regen und Gewitter zogen über das Gelände derAlten Ziegelei. Doch das gesamte Ensemble mit Schauspieler:innen und Puppenspieler:innen ließ sich dadurch nicht beirren und spielte weiter, bis die Wolken vorbeigezogen waren und die Musiker der Liveband musizierten munter weiter. Die Spielfreude der jungen Darsteller und Darstellerinnen zog sofort in Bann. Das liebevoll gestaltete Gelände in Koblenz Moselweiß wird zur Spielfläche umfunktioniert. Es ist keine Bühne aufgebaut, Wiese und Gebäude werden genutzt. Alles wird „bespielt“, was auf dem Gelände vorgefunden wird: Die Wand eines Gebäudes dient als Kulisse, kleine Requisiten liegen und stehen herum, ein Aufsitzrasenmäher sowie ein E-Roller beleben die Szenerie, der fest installierte, aufgeschnittene Postcontainer und dessen Dach wird zum Refugium von Fresssack, Bäume und Wiese werden zum Lebensraum von Glühwürmchen und anderen Tieren. Und die Natur wird in unterschiedlichstes Licht getaucht.

Fünf Puppenspieler:innen und zwei Schauspieler:innen verkörpern den Zauberer Herrn Fresssack sowie Franz Esel, Susi Sau, Marina Huhn, Harry Hund, Kater Raimond, den Wandermusikanten Hans Frosch, die Geschwister Mümmelmann, Glühwürmchen Herbert und den Chor der Frösche. „Wir sind ein Anarchiepunk-Ensemble, das sich genauso streitet wie es sich liebt,“ sagen die Ensemblemitglieder von sich. Entsprechend der zugeordneten Rollen und Charaktere tragen sie nur Puppenköpfe. Die Puppenköpfe sind ungefähr so groß wie Menschenköpfe und werden beim Spiel vors Gesicht gehalten. Vervollständigt wird durch Kostüme, wie ein Puschelkostüm für den Hasen oder eine rockige Lederhose für die Sau Susi. Die Charaktere der Puppenköpfe sind deutlich herausgearbeitet: Es sind sichtbar alte Tiere, leicht angegraut und vielfach mit Narben. Beim Esel stecken punkige Sicherheitsnadeln im Ohr, das Schwein hat ein Halstuch, der Hund trägt eine Narbe und der Kater hat ein beschädigtes Ohr. Was alle Tierköpfe eint: Sehr eindringlich sind die großen Glasaugen.

Das Stück orientiert sich an den Bremer Stadtmusikanten. Laut Märchen soll der alte Esel verkauft werden, flieht und will Stadtmusikant in Bremen werden. Auch Hund, Katze und Hahn sind alt, sollen sterben und schließen sich ihm an. Durch den Verlust ihrer Leistungskraft sind sie nutzlos geworden. Auf ihrem Weg durch einen Wald treffen sie auf ein Räuberhaus und vertreiben durch lautes Singen und Heulen dessen Bewohner. Die Tierfabel zeigt, dass durch ihren Aufbruch, ihren Zusammenhalt und ihren Mut das Böse zu überlisten ist.  

Das Musical „Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten“, orientiert sich an den Bremer Stadtmusikanten. Doch diese Tiere sind nie bis nach Bremen gekommen! Sie sind in dieser Fassung im Westerwald aufgebrochen und in Koblenz hängengeblieben – und in das Haus und Gelände an der Alten Ziegelei eingezogen. Auch hier handelt es sich um alte, abgearbeitet Tiere, die wie im Märchen geschlachtet werden sollten und deswegen abgehauen sind. Jetzt ‚gammeln‘ sie so rum in einer Art Hippiekommune, andere Tiere schließen sich an, wie Schwein, Hase, Igel und machen eine Dauerparty. Ab und zu sagt ein Tier „man müsste ja mal was machen, aber es macht keiner was.“ 

Doch dann kommt Herr Fresssack. Er ist eine Art Zauberer und Verführer. Wie in der Realität hat er in Zeiten von Not und Rezession die größten Chancen: Er macht sich diese Erkenntnis zunutze und verspricht den Tieren das Blaue vom Himmel. Herr Fresssack zwingt ihnen einen Knebelvertrag auf und sagt, ihr müsst nur acht Stunden für mich arbeiten, dann werdet ihr reich belohnt – er verspricht ihnen allerhand Konsumgüter, erfüllt Wünsche, von denen die Tiere vorher noch nichts wussten. Die Tiere sagen: „Acht Stunden arbeiten, für all die Annehmlichkeiten – geschenkt, das schaffen wir.“  Doch dann sagt er: „Gemeint waren acht Stunden jeden Tag!“ Die Tiere begreifen, dass sie wieder in den alten Strukturen als Nutztiere gelandet sind, gegen die sie aus ihrer vorigen Zeit rebelliert haben. Sie erkennen, dass sie ausgenutzt werden, das erleben müssen, wovor sie weggerannt sind. Doch die anwesenden Tiere lassen sich vom Fresssack spalten – manche sind pro und manche contra Fresssack eingestellt. Das macht es nicht leichter. Schließlich wird ihnen klar: Nur wenn wir zusammenhalten, können wir Herrn Fresssack rausschmeißen. Das ist auch das, was im Märchen der Bremer Stadtmusikanten stattfindet. Die Lösung aus einer prekären Situation kann nur gemeinsam erfolgen. Sie vertreiben gemeinsam den Herrn Fresssack.

Hintergrundinformationen zum Ort: 
Warum Open Air? „Wir haben ein Stück zum Ort gesucht“, sagt Juliane Wulfgramm, die leitende Dramaturgin und ergänzt, „und der Ort wurde uns angeboten.“ Das Gelände von Moselweiß ist heute ein Generationenpark und eine Begegnungsstätte. „Unser Anknüpfungspunkt war, eine Geschichte mit Tieren zu erzählen im ehemaligen Tierheim,“ erinnert sie sich, als sie sich vor rund einem Jahr das Gelände angeschaut hat. Die ehemaligen Ställe wurden behutsam umgebaut, seit das Tierheim ausgezogen ist. Ehrenamtliche hegen und pflegen den Ort und das Gelände, eine moderne Küche und Sanitärräume wurden installiert. „Es soll eine Art Win-win-Situation entstehen: Die Theater-Produktion soll helfen, den Ort zu beleben, Publikum anzuziehen sowie den Ort bekannt zu machen für Feiern, Veranstaltungen, usw.“, sagt sie. Denn noch hat sich nicht rumgesprochen, dass das Gelände zu reservieren und zu buchen ist, obgleich es in einem Koblenzer Stadtteil liegt und Natur pur drumherum bietet. 

Hintergrundinformationen zur Auswahl des Stückes:
„Wir haben konkret ein Stück für das Puppentheater gesucht – und diesen Ort sofort als ideal empfunden“, sagt Juliane Wulfgramm. Sie hat recherchiert und viel gelesen. „Und dann kam ich auf ‚Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten‘ aus den 70er Jahren – dazu die charmante Musik von Rio Reiser und ‚Ton Steine Scherben‘“, erinnert sie sich. Danach hat sie gemeinsam mit der als Gast verpflichteten Regisseurin Friederike Förster den Text adaptiert und ein Konzept für die heutige Zeit erarbeitet. Die fünfköpfige Band mit Keyboards, Gitarre, Bass, Trompete und Schlagzeug komplettieren das Stück durch die Livemusik. Sie haben sich schnell entschieden, noch mehr als die im Stück eingeschriebene Musik einfließen zu lassen. Neben den Liedern wie „Mein Name ist Mensch“, „König von Deutschland“, „Der Traum ist aus“, alles Lieder von „Ton Stein Scherben“, kamen speziell für das Hörspiel der 70er auch das „Kampflied der Tiere“ hinzu und neu geschriebene und selbst komponierte Lieder. Aus dem Wunsch, die anarchische Fantasie um 1970 mit dem gesellschaftskritischen Anspruch der Studentenbewegung zu verbinden, entstand damals die Idee, eine Kinderschallplatte aufzunehmen. „Aber es ist keineswegs ein explizites Kinderstück, sondern familientauglich“ , betont die Dramaturgin. 

Hintergrundinfos zum Musical:
„Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten“ ist ein Schauspiel nach Dietmar Roberg der Mitglied und Mitautor im „Hoffmanns Comic Teater“ war sowie Musik von „Ton Steine Scherben“ von Rio Reiser und R.P.S. Lanrue. Die Regie führt Friederike Förster, die Dramaturgie liegt bei Juliane Wulfgramm. Musikalische Leitung hat  Holger Kappus mit der Ausstattung von Artemiy Shokin und dem Puppenbau von Josephine Hock.

Hintergrundinfos zum Förderverein Moselweiß e.V.:
Das erste Großprojekt des gemeinnützigen Fördervereins Moselweiß (FVM) war die ehrenamtliche Umwandlung des ehemaligen Tierheimgeländes am Standort der Alten Ziegelei in einen naturnahen Freizeit- und Generationenpark. Unter dem Motto: ‚Brache wird Paradies‘, soll die vorhandene Fläche für die Allgemeinheit nutzbar gemacht werden. Es entstand eine Theaterfläche, ein Grillplatz, Aktionsbereiche für Kinder und Jugendliche und die Nutzung soll generationenübergreifend erfolgen können. 

Der Weg des Herrn Fresssack von Berlin Kreuzberg nach Koblenz Moselweiß ist lang und endet mit der Anfahrt über die Straße„In der Hohl“ und mündet in die kleine Straße „In der Höll“ und hier sind die Besucher und Besucherinnen richtig: Das Gelände der Alten Ziegelei/ FVM Generationenpark ist der Schauplatz des neuen Open-Air-Stückes „Herr Fresssack und die Bremer Stadtmusikanten“, das am 16. Juni 2023 Premiere feiert und noch sechsmal in dieser Spielzeit läuft.

Text: Christina Körner
Fotos: Arek Głębocki