Jeder Tag ist ein neuer Tag

11. April 2023 · von Manfred Jahnke

Notate zu der Neu-Inszenierung von Éric-Emmanuel Schmitt: „Oskar und die Dame in Rosa“

Wer kennt noch den Bestseller aus dem Jahre 2003? „Oskar und die Dame in Rosa“ von Éric-Emmanuel Schmitt? Diese tief berührende Geschichte von Oskar, der an Leukämie erkrankt, nach zwei gescheiterten Operationen erfährt, dass er bald sterben wird? Wie damit umgehen? Oskar, der sein Wissen beim heimlichen Erlauschen des Gesprächs zwischen seinen Eltern und Doktor Düsseldorf erhalten hat, findet in Oma Rosa, die einen rosafarbenen Kittel trägt wie alle ehrenamtlichen Helferinnen in französischen Kinderkliniken, eine geduldige Unterstützerin. Sie rät ihm, an jedem auf der Welt verbliebenen Tag einen Brief an Gott mit seinen Fragen zu schreiben und mehr noch, jeden von den zwölf Tagen, die ihm verbleiben, die Geschichte eines Menschen zu durchlaufen, von Null bis Hundertzwanzig. Trotz des ernsten Themas bettet Schmitt seine Geschichte in eine humorvolle Philosophie ein: Banaler Alltag wie die ersten Liebesgeschichten in der Pubertät erhalten mit der Erfahrung, dass alle Menschen einmal sterben müssen, eine tiefe und doch leichte Emotionalität.

Der 1960 geborene Éric-Emmanuel hat nach einem Klavierstudium seine literarische Karriere mit sehr erfolgreichen Theaterstücken begonnen. Auch, als er ins prosaische Fach wechselte – seine hierzulande berühmtesten Erzählungen sind wohl „Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“ und eben „Oskar und die Dame in Rosa“ (mit diesen Nennungen ist sein Werk keineswegs erfasst) – , entwickelte er in der epischen Erzählform so viel Dramatik, dass diese auch den Weg zur Bühne fanden: So findet man im Impressum der deutschen Publikation auch gleich den Hinweis auf den Verlag, bei dem im deutschsprachigen Raum die Theateraufführungsrechte liegen. Ein Grund hierfür ist, dass Schmitt gekonnt Dialoge schreiben kann, zwar wie in „Oskar“ eingebunden in eine epische Grundhaltung, aber sie sind einfach gut. Sicherlich ist es für eine dramatische Umsetzung ein Problem, dass Schmitt die Geschichte in Briefen aus der Ichperspektive des zehnjährigen Jungen erzählt – nur am Ende, nach dem Tod von Oskar, übernimmt Oma Rosa die Erzählerrolle. Diese Konstruktion wird bei einer Dramatisierung des Stoffes spannend, wie viele Inszenierungen dieses Sujets seit Mitte der 00er Jahre zeigen.

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Auch am Theater Koblenz gab es 2018 eine Inszenierung von Frank Alexander Engel. In einem schmalen Kirchenraum mit wenig Platz konzentrierte er das Publikum auf kleine Stabmarionetten mit winzigen Spielrequisiten. Die Inszenierung stieß auf ein großes Publikumsinteresse, nicht alle Besucher konnten in der Aufführungsserie einen Platz finden. Jetzt gibt es eine neue Chance!

Denn 2023 inszeniert Frank Alexander Engel erneut „Oskar und die Dame in Rosa“ – um „vier Jahre gereifter“, wie er sagt. Mit den gleichen Puppen und der ursrpünglichen Textfassung, die der Neuinszenierung eine Struktur vorgeben, aber kein Remake: nicht nur der Raum – die Probebühne 4 – ist ein anderer – , sondern auch die Besetzung, Katharina Halus und Martin Vogel, die andere Erfahrungen und Spielweisen in die Produktion hineinbringen. Eine wirkliche Neuinszenierung, wie sich auch in der Probenzeit zeigt, die Engel folgendermaßen beschreibt: vier Wochen, um im Spiel die Figuren kennenzulernen – was sie können, was sie nicht  können und wo sie einen überraschen. Gerade dieses Training des „Vertrautmachens“ sei für das Ensemble ein wichtiger Vorgang, um dann später beim Publikum die Illusion zu erzeugen, dass das eigentlich „tote“ Material lebt. Die restliche Zeit brauche man für Durchläufe durch das Stück, um ein Gefühl für den Ablauf zu bekommen, zunächst einmal in organisatorischer Form – z.B., wo befindet sich was und wer ist verantwortlich, dass alle Puppen und Requisiten am richtigen Ort liegen? – , dann aber auch, was das Timing, was das Spieltempo betrifft.

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Ich habe am 5. April 2023 einen solchen Durchlauf angeschaut, schon im Originalkostüm, dem Originalbühnenbild und den Originalrequisiten, aber ohne den eigentlich magischen Zauber des Theaters: das Licht, wobei so eine Probe bei Probenlicht – die ganze Bühne ist in Halbdunkel getaucht – wiederum ganz eigene Reize entwickelt. Man kann z.B. dem Regisseur zuschauen, wie er sich in der ersten Zuschauerreihe mit im Rhythmus der Musik bewegt, sich Notizen macht oder aufspringt, um dem Spieler oder der Spielerin Hinweise zu geben, wie eine Situation noch dramatischer, noch spannender ausgespielt werden kann. Was nicht heißt, dass der Autor dieser Zeilen nicht den Spielern zugeschaut hätte, zwei wunderbaren Puppenspieler, die nicht nur die Puppen führen können, sondern auch als Schauspieler agieren müssen, nicht nur sprachlich, sondern auch im körperlichen Spiel. 

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Katharina Halus und Martin Vogel treten zunächst als Erzählerin und Erzähler auf, die in die Geschichte einführen. Anders als in der Vorlage wird nicht die Ichperspektive übernommen, sondern aus einer auktorialen Sicht erzählt. In den Dialogen wiederum wird aus dem Horizont Oskars gespielt:  Puppenspieler wie Puppenspielerin müssen nicht nur zwischen den unterschiedlichen Erzählperspektiven hin- und herwechseln, sondern sie haben auch noch mehrere Puppen zu bespielen und tauschen auch noch während der Szene die Rollen – und das in einem atemberaubenden Spieltempo. Engel hat dafür einen Raum geschaffen, der nach hinten durch eine große grüne Tafel abgeschlossen ist, auf der die Spielenden Räume andeuten können, aber auch Träume, oder die Zahl der Tage rückwärtslaufend notiert werden. Im Vordergrund stehen drei Kästen auf Rollen, mit grün-golden karierten Mustern und Bildern von Frauen aus dem 19. Jahrhundert tapeziert. Zwei dieser Kästen sind etwas größer und werden als Bühnen für die Puppen benutzt. Sie haben aufklappbare Spielleisten, die die jeweilige Örtlichkeit etwas durch ein Mauermuster anzeigen. Der dritte Kasten ist kleiner und dient als Ablage für den ersten und den letzten Brief von Oskar an Gott. Das Karomuster – blau und grün – spiegelt sich in den Westen der Darstellerin und des Darstellers. Ansonsten ist die Grundfarbe des Kostüms schwarz, sie trägt einen Rock, er eine Hose. Beide tragen eine kleine rote Armbinde.

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Die von Frank Alexander Engel und Kerstin Schmidt gebauten Puppen sind klein. Oskar, Oma Rosa und die jungen Heranwachsenden wie Peggy Blue, in die Oskar verliebt ist, der dicke Popcorn oder Sandrine kleine Stabmarionetten: die Spieler führen mittels eines Handgriffs, an dem nur wenige Fäden (also ganz anders als bei der klassischen Marionette, wo sich ständig die vielen Fäden verwirren können) befestigt sind, aber dennoch in ihren Bewegungen natürlich und lebendig wirken. Gleichzeitig aber gibt es die Figuren auch als Flachpuppen, die an die Tafel, die auch magnetisch wirkt, geheftet werden können. Die Eltern sind gemalte Konterfeis, die einfach hinter dem kleinen Koffer, der Oskar als Bett dient, aufgestellt werden.

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In den Erzählungen der Oma Rosa, die Oskar Mut machen wollen, beschwört sie ihre Weltkarriere als Catcherin. Diese Szenen, die von einem Mikrofon verstärkt werden, finden nicht an den „kleinen Bühnen“ statt, die allein dem Spiel mit den Stabmarionetten (und den Bildern der Eltern und von Doktor Düsseldorf) vorbehalten sind, sondern im Raum. Auch hier werden die Kämpfe mit Flachfiguren vorgeführt oder, wie bei den Drillingen Molotowm, als gemaltes Triptychon. Showelemente wie golden glitzernde Bälle lockern das Bild auf und die Sprache nimmt den Ton einer emotionalen Sportmoderation auf.

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Wie die Geschichte von Schmitt von einem Reichtum ist, die bei einmaligen Lesen gar nicht auszuschöpfen ist, ist auch die Inszenierung von Engel von einer Fülle, die nicht nur durch ständige Brüche und Wechsel gekennzeichnet werden, sondern mehr noch durch eine starke Emotionalität. Mit welcher liebevoller Sorgfalt Katharina Halus Oskar im Krankenbett zudeckt, entwickelt eine starke Wirkung. Es gibt viele solcher Szenen, wo diese Wirkung sich entfaltet und die sind nicht nur aus den Erzählungen der Vorlage begründet, sondern gerade auch aus dem szenischen Spiel, das eine intensive Atmosphäre schafft. Diese wird von den Kompositionen von Sebastian Herzfeld unterstützt, der mit seinen leisen melodischen Untertönen der Szene einen zusätzlichen Ausdruck verleiht.

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Schon im Arbeitslicht der Bühne zeigt sich die wunderbare Wirkung dieser Inszenierung. Welche Magie wird sie erst entfalten, wenn das Licht hinzukommt?

Text: Manfred Jahnke
Fotos: Arek Głębocki
und Theater Koblenz