Die Hölle, das sind die andern

01. Dezember 2022 · von Manfred Jahnke

Beobachtungen zu „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre als Puppentheater in der Inszenierung von Jochen Menzel

Bei einer Hauptprobe kommen zum ersten Mal die in den Proben einstudierten Szenen mit den Gewerken des Theaters zusammen. Da tragen die Spieler und Spielerinnen zumeist zum ersten Mal die Originalkostüme, steht zum ersten Mal das in den Werkstätten des Hauses gebaute Bühnenbild und die Beleuchtung wird so gefahren, wie es bei der Premiere sein soll. Vorne sitzt die Regie vor ihrem Laptop, ebenso die Assistenz, die zugleich, wenn denn eine Spielerin „Text“ ruft, die entsprechenden Stichwörter souffliert, oder die Regie fuchtelt mit den Armen, um der Beleuchtung anzudeuten, dass der Beleuchtungswechsel zu spät kam. Kurz, der Zuschauerraum ist fast voll mit den enger und weiter mit der Produktion befassten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Für einen Betrachter wie mich herrscht eine ungeheure Spannung im Raum.

Was sich im Zuschauerraum versammelt, sind neben der Regie und der Assistenz Bühnenbildner, Kostümentwerferinnen, Puppenbauer, und… und… Und auf der Bühne agieren mit großer Power die Mitwirkenden, denn zumeist ist die erste Hauptprobe auch der erste Durchlauf: Was in einzelnen Sequenzen geprobt wurde, kommt nun in eine Abfolge, das Gedächtnis der Spielerinnen für Abläufe wird trainiert, aber nicht nur das, sie müssen auch lernen, mit ihren Kräften hauszuhalten, damit die Spannungsverhältnisse in der Aufführung bis zum Schluss hoch bleiben.

Dieses „erste Mal“ ist stets von Neuem etwas Besonderes. In der nun folgenden letzten Probenwoche wird an der Spannung gefeilt, da kann die Inszenierung noch ein ganz anderes Gesicht annehmen. Die Rede ist von „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean-Paul Sartre, die am 3.12.2022 Premiere haben wird, aber nicht als Schauspiel, sondern als Puppentheater. Eine sinnige Zusammenfügung der Koblenzer Dramaturgie: Tritt doch in der vorangegangenen Figurentheaterpremiere in der in Koblenz unterschätzten Inszenierung von Katharina Kummer, „Der Schaum der Tage“ von Boris Vian, dieser als Jean-Sol Partre auf. Und nun das Original mit seinem existentialistischen Werk „Geschlossene Gesellschaft“, noch unter deutscher Besatzung in Paris 1944 uraufgeführt.

In „Geschlossene Gesellschaft“ geht es um grundlegende Theoreme des Sartre’schen Existentialismus, vor allem dem wohl wichtigsten Prinzip, dass jeder Mensch, der auf die Welt geworfen wird, die Verantwortung für sein Leben übernehmen muss. Und wenn er es im Leben nicht schafft, dann muss er als Toter nachsitzen. Das müssen Garcin, Ines und Estelle schmerzhaft erfahren. Sie haben Schuld auf sich geladen, in ihrem Egoismus nicht nur geliebte Mitmenschen verletzt, sondern auch getötet. Nun sind sie (im Original) in einem Second-Empire-Salon, der die Hölle ist und müssen auf dem Umweg über ihre Lebensgeschichten erkennen, dass sie nicht auf dem Scheiterhaufen schmoren müssen, sondern auf ewig aneinandergekettet bleiben: Eine nicht durchschaubare Instanz hat sie zusammengebracht. Letztlich fügen sich die drei in ihr Schicksal ein, weil sie bei ihren Erinnerungen an das weltliche Leben nicht nur den Ekel darüber empfinden, sondern mühevoll begreifen müssen, dass die Hölle die Anderen sind. Sie entscheiden sich zum „Weitermachen“, wie das letzte Wort des Stückes lautet.

Ein Stück, das die Schuldhaftigkeit und den Ekel des in die Welt geworfenen Menschen als Schauspiel vorführt, aber auf einer Puppentheaterbühne zu verhandeln, macht das Sinn?

Auf der Bühne agieren an einem langen schwarzen Tisch drei junge Frauen in einem einheitlichen Kostüm, schwarzer Anzug, rote Fliege, überdimensionierte Frisuren und die Gesichter geschminkt wie Gothic-Leute, nur nicht so weiß. Schnell wird deutlich, diese drei sind der Kellner, der Vertreter der höllischen Instanz. Wenn das Spiel beginnt, überprüft eine der Kellnerinnen die Heizung. Sie scheint mit der Temperatur zufrieden: 90 Grad Celsius. Auf einem Bildschirm rechts neben dem Tisch zeigt ein Live-Video Bilder von der Szene, manchmal wird auch die Kamera von einer Spielerin in die Hand genommen und die Bilder werden ganz nah herangeholt. Der Clou dabei ist, die Übertragung färbt die realen Bilder rot ein: als Zeichen bleibt die Hölle immer gegenwärtig. Wie auch die Kellnerinnen, die dann schon einmal zu einem Gläschen greifen.

Indem die Kellnerinnen als Vertreterinnen der „höllischen“ Instanz die einzelnen Figuren führen, wird deutlich, wer hier regiert: Für die Gefangenen gibt es keine Chance, so wie auch die Kamera an Überwachung denken lässt. Mit dieser Verfremdung schafft Jochen Menzel, ein „Urgestein“ der deutschen Puppentheaterszene, einen Raum, der dem Publikum große Freiheiten lässt. Mit seiner Fantasie kann es die gezeigten Vorgänge aufladen, aus einem gewissen Abstand Empathie mit den leidenden Figuren empfinden, auch eine andere Sicht einnehmen, die es ermöglicht, das ernste Spiel mit einer großen Leichtigkeit zu erzählen. Das ist Jochen Menzel, der zum ersten Mal in seiner über dreißigjährigen Puppenspielertätigkeit in Koblenz inszeniert, wichtig. An die hundert Inszenierungen in der Szene hat er auf seinem Buckel und darüber hinaus als Dozent und Leiter der Puppenspielabteilung an der Berliner Ernst-Busch-Schule gearbeitet. In Koblenz trifft er dabei auf ehemalige Studentinnen. Man trifft sich „auf Augenhöhe“, wie er betont, auch als Lehrer sei es ihm immer wichtig gewesen, zuzuhören und Studierende nicht von vornherein auf ein Konzept festzulegen, was aber nicht ausschließt, Rahmungen zu schaffen. Und so ein Zusammentreffen hat auch etwas Vorteilhaftes: man kennt sich.

Svea Schiedung führt die Puppe der Ines, Anastasiia Starodubova die der Estelle und Odile Pothier, noch Studentin im 4. Jahr an der Ernst-Busch, die des Garcin. Peter Lutz hat die Puppen gebaut, Tischpuppen, die über einen ausgefeilten Mechanismus verfügen, der Mund ist so beweglich, dass beim Zuschauen die Illusion entsteht, als ob diese Figuren wirklich sprechen würden und auch sonst sind diese von einer starken „Lebendigkeit“: auch hier funktioniert die Magie der Animation, man vergisst mit der Zeit, dass da Puppen agieren: sie nehmen menschliche Dimensionen an. Dabei bleibt ein flirrender Abstand, der nicht nur ermöglicht, eine kritische Distanz beizubehalten, sondern auch jene Leichtigkeit erzeugt, von der weiter oben schon die Rede war. Die hat auch damit zu tun, dass Svea Schiedung, Anastassiia Starodubova und Odile Pothier virtuos zwischen ihren Rollen als Kellnerin und Figur switchen, immer mit einem Lächeln für das Publikum und auch mal mit einem Song für ihre Figur auf den Lippen.

Das Koblenzer Publikum darf einen spannenden Theaterabend erwarten. Auch, wenn sich noch nicht überall herumgesprochen hat, dass Puppentheater nicht nur Kinderkram, sondern auch ernsthafte Kunst für Erwachsene ist: Nach der tollen Inszenierung von „Der Schaum der Tage“ von Katharina Kummer kann man nun ein weiteres Beispiel für großes Puppentheater anschauen. Für Erwachsene!

Und ja, es macht Sinn, ein Schauspiel wie „Geschlossene Gesellschaft“ ins Medium des Puppenspiels zu transferieren: Über den Umweg der Puppe vermitteln sich ganz neue, sinnliche Einblicke auf den Text und die Welt.

Der Artikel basiert auf einen Besuch der ersten Hauptprobe am 25.11.2022, sowie einem anschließenden Gespräch mit dem Regisseur Jochen Menzel.