„Ariadne auf Naxos“ – Mythos und Commedia

19. April 2024 · von Manfred Jahnke

Manfred Jahnke, nach einem Probenbesuch (ohne Orchester) und einem Gespräch mit Elmar Goerden am 12.04.2024

Zu den Hintergründen der Oper

„Das Stück geht so: Eine Prinzessin wurde von ihrem Bräutigam sitzengelassen, und ihr nächster Verehrer ist vorerst noch nicht angekommen. Die Bühne stellt eine wüste Insel dar. Wir sind eine muntere Gesellschaft, die sich zufällig auf der Insel befindet…“ Ist die Grundsituation von „Ariadne auf Naxos“ so einfach, wie es Zerbinetta (Hana Lee) mit ihren Worten ausdrückt? Schon die Entstehungsgeschichte der Oper, sowie der nicht unproblematische Briefwechsel zwischen dem Librettisten Hugo von Hofmannstahl (1874 – 1929) und dem Komponisten Richard Strauss (1864 – 1949) verweist eher auf komplexe Strukturen. In der ersten Fassung, die 1912 in Stuttgart uraufgeführt wurde, ist „Ariadne auf Naxos“ als Abschlussaufführung in dem Hause von Herr Jourdain in Molières „Der Bürger als Edelmann“ statt des Balletts im Original konzipiert. In der zweiten Fassung, 1916 in Wien in Szene gesetzt, gibt es zum mythologischen Stoff ein Vorspiel: Man ist kurz vor der Aufführung, alles wuselt aufgeregt hin und her und der Tenor tobt über die Perücke, die er überziehen soll. Mitten in diesem Wirbel teilt der Haushofmeister (Christof Maria Kaiser) mit, dass nicht, wie er zu Beginn angesagt, der Oper ein burleske Tanztruppe folgen werde, sondern diese nun in die Oper die Truppe mit ihren Improvisationen integriert werden soll. Hohe Kunst und commedia (= „Pop“) treffen unmittelbar aufeinander. Während Zerbinetta als Leiterin der Truppe die Situation gelassen nimmt, toben der Musiklehrer (Nico Wouterse) und der Komponist (Haruna Yamazaki) als Vertreter der hohen Kunst über die Zumutung. Aber auch Kunst geht nach Brot.

Die einleitende Inhaltsangabe spiegelt die Perspektiven von Harlekin (Christoph Plessers), Truffaldin (Jongmin Lim), Brighella (Stefan Cifolelli), Scaramuccio (Andrew Penning) – alles Maskenfiguren aus der commedia dell’arte – und ihrer Chefin Zerbinetta, deren wichtigste Maxime die Lebenslust ist. Das sieht Ariadne (Adréana Kraschewski) anders, wie Hofmannsthal an Strauss schreibt:

„Es handelt sich um ein simples und ungeheures Lebensproblem: das der Treue. An dem Verlorenen festhalten, ewig beharren, bis an den Tod – oder aber leben, weiterleben, hinwegkommen, sich verwandeln, die Einheit der Seele preisgeben, und dennoch in der Verwandlung sich bewahren, ein Mensch bleiben, nicht zum gedächtnislosen Tier herabsinken. (…) Es steht hier die Gruppe der Heroen, Halbgötter, Götter – Ariadne – Bacchus (Theseus) – gegen die menschliche Gruppe der leichtfertigen Zerbinetta und ihrer Begleiter, dieser gemeinen Lebensmasken. Zerbinetta ist in ihrem Element, wenn sie von einem zum andern taumelt. Ariadne konnte nur e i n e s Mannes Gattin oder Geliebte, sie kann nur e i n e s Mannes Hinterbliebene, Verlassene sein. Eines freilich bleibt übrig, auch für sie: das Wunder, der Gott. Sie gibt sich ihm, denn sie nimmt ihn für den Tod: er ist Tod und Leben zugleich…, zaubert ihr in dieser Welt das Jenseits hervor, bewahrt sie uns, verwandelt sie zugleich.“

Was aber haben sich die Helden angetan? Der Mythos erzählt, dass Ariadne den Liebesverrat des Theseus nicht überwinden kann und sich den Tod herbeisehnt. Der griechische Held war nach Kreta gekommen, um Athen vom jährlichen Tribut an Jungfrauen für den Minotaurus, diesen in dem von Dädalus erbauten Labyrinth eingesperrtem Menschstier, zu befreien. Hätte ihm nicht Ariadne den Trick mit den Faden verraten, er wäre nicht wieder herausgekommen. Zum Dank versprach er ihr die Heirat und floh mit ihr, ließ sie aber auf der Insel Naxos allein zurück. In frühen Fassungen dieses mythologischen Stoffes tötet Artemis sie, weil sie eigentlich dem Dionysos versprochen war. Erst in hellenistischer Zeit wird sie zur Verlassenen. Hofmannsthal verbindet die Überlieferungen, indem er Bacchus auftauchen lässt. Er ist gerade den Künsten der Liebeszauberin Circe entflohen und will eigentlich mit Frauen nichts mehr zu tun haben. Und Ariadne hält ihn für einen Todesboten. Die beiden Liebesverratenen finden sich nicht nur aus diesen Missverständnissen heraus, sondern auch, weil in der Welt ständig alles im Wandel begriffen ist, wie Hofmannsthal 1912 an Richard Strauss schreibt:

„Verwandlung ist Leben des Lebens, ist das eigentliche Mysterium der schöpfenden Natur; Beharren ist Erstarren und Tod. Wer leben will, der muß über sich selber hinweg kommen, muß sich verwandeln: er muß vergessen.“

Wenn die Zusammenarbeit zwischen Hofmannsthal und Strauss nicht immer reibungslos verlief, so trieben sie sich doch gegenseitig an. Wie der Komponist die Mittel der Opera seria mit denen der Opera buffa verbindet, ist virtuos. Dabei arbeitet er nicht mit einem großen Orchester, sondern mit einer Besetzung von 37 Instrumentalisten fast kammermusikhaft. Der Komponist scheut sich dabei nicht, auch mit musikalischen Zitaten zu arbeiten, mit Motiven von Mozart, Schubert oder Donizetti. Kurz die Musik von Strauss wirkt trotz vereinfachter Harmonie genial:

Hofmannsthals Fähigkeit, die für die Musik gedachte Dichtung auf Kontraste und über den Kontrasten auf Harmonie des Ganzen anzulegen, das macht die Vollendung der „Ariadne“ aus, zu der Strauss seine dezenteste, in der zarten Bestimmtheit und Beschwingtheit des Melodischen, der klaren und dabei wunderbar farbigen Bildung des Harmonischen unbedingt genialste Musik geschrieben hat, eine der Dichtung völlig adäquate Musik, die das Geistige und das Klangsinnliche in gleichschwebende Schalen verteilt darreicht.“
(Elisabeth Schmierer, Dirk Oetzmann, Uta Rechtmann, Isolde Tröndle-Weintritt: Operngeschichte in einem Band, Berlin 1999, S. 418)

Zur Inszenierung am Theater Koblenz

Elmar Goerden inszeniert am Theater Koblenz zum vierten Mal eine Oper: nach Marijin Simons „Emilia Galotti“, Peter Eötvös „Der goldene Drache“ und „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti nun also „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss. Elmar Goerden, der u.a. in Stuttgart, Basel, Wien und München an großen Häusern inszenierte und inszeniert, dazwischen Intendant am Schauspielhaus Bochum war, also vom Schauspiel herkommend, ist inzwischen im Musiktheater genauso zu Hause. Darauf angesprochen, was für ihn der größte Unterschied in der Arbeit mit Schauspielern und Sängern ist, erzählt er von einer Ansprache an die Sänger auf einer Opernprobe: „Ihr wisst, welche Töne ihr singen müsst, aber der Schauspieler muss seinen Ton erst finden.“ Weiter müsse der Regisseur vorbereiteter sein, was Abläufe und physische Anordnungen in den szenischen Arrangements betrifft. Vor allem aber interessieren ihn Fragen wie: „Was braucht der Sänger in einer Situation? Braucht er in einer Spielsituation den Blickkontakt zum Dirigenten?“ Oder kann er sich auf das Spiel mit den Anderen konzentrieren? Was auf der Bühne als wichtiger Vorgang stattfinden muss, ist die Theatralisierung der Gefühle. Dabei hat die Musik eine hohe Bedeutung: „Musik macht etwas mit den Leuten.“ 

Das Spiel im Spiel bei „Ariadne auf Naxos“ habe ihn gereizt als „Oper über das Metier“, die Einblick gäbe in die „Opernmechanik von innen“. Besonders interessant sei dabei die „Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit“. In der Tat zeigt das Vorspiel – ohne parodistisch zu wirken – die Mechanismen, wie der Geldgeber in die Kunst eingreift, wie Verehrer aus der Garderobe der Diva kommen, oder Tenor und Perückenmacher (Peter Rembold) sich beschimpfen, kurz: die kleinen Kabbeleien backstage und die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Wobei Goerden im bildhaften Material die Vorgänge mehr in die Gegenwart rückt: In den Kostümen von Lydia Kirchleitner wirken die vier „Harlekine“ in ihren schwarzen Fräcken – nur Zerbinetta trägt einen weißen Frack – wie ein Männerquartett aus den zwanziger Jahren. Wenn sie auftreten – meistens gemeinsam – trägt einer stets einen Notenständer mit sich. Der Raum des Vorspiels von Silvia Merlo und Ulf Stengl wirkt in seiner Marmorierung kalt, kein Theaterraum, sondern ein Foyer, in dem rechts acht Stühle im Halbkreis stehen, links ein Tisch mit einigen Instrumentenkoffern, hinten vor der Marmorwand stehen Tische nebeneinander. Der Raum signalisiert klar: man will sich mit Kunst dekorieren, aber auf deren eigentlichen Bedürfnisse nicht eingehen. Das angekündigte Feuerwerk ist wichtiger als die Kunst.

In dieser Szene bahnt sich eine Annäherung von Zerbinetta und Komponist an. Er ist fasziniert von ihr, von ihrer Klarheit, von ihrer Direktheit, von ihrer Lebensfreude. Hana Lee spielt das mit großer Ausstrahlung und Wärme aus. Der Komponist, der doch um seine Oper kämpft, verfällt ihr – nach einem langen Kuss – staunend. Am Ende, wenn sich das Ensemble zu einem großen Standbild formt, hocken Beide vorne am Boden, er hat seine Partitur mitgebracht, sie lesen diese gemeinsam und nach einem langen Kuss fällt der Vorhang. Elmar Goerden lässt offen, ob sich eine Versöhnung von hoher Kunst und commedia anbahnt…

Dazwischen ist das große Drama. Adréana Kraschewski spielt ihre Rolle als Ariadne statuarisch, um so ausdrucksfähiger ist ihre Stimme. Das Bild hat sich gewandelt, der Marmor ist verschwunden. Stattdessen dominiert Schwarz-Grau. Die Stühle und Tische des Vorspiels türmen sich – teilweise  umgekippt – zu einem kleinen „Trümmerberg zu. Die Hinterwand ist ein schwarz-graues abstraktes Bild, dessen Spitzen an Wellen erinnern. In diese Düsternis hinein, die die Gefühlslage der Ariadne wiedergibt und in der es nicht einmal eine grüne Topfpflanze aushält, agieren nicht nur die drei Nymphen mit ihren im Schnitt antikisierenden Kostümen, sondern auch (erfolglos) die Truppe der Zerbinetta. Deren Spielchen mit den Männern des Quartetts wirken in einem solchen Ambiente angestrengt und deshalb verschwinden sie auch mit der Ankündigung, dass Bacchus mit seinem Schiff im Anzug sei. Wie Adréana Kraschewski und Tobias Haaks als Bacchus sich verblendet an ihre Vergangenheiten klammern, wie sie sich in ihrem Missverstehen hineinsteigern, ist sehenswert. Goerden hält beide Figuren auf Distanz, selbst bei ihrer großen Szene des Erkennens. Über diese fast zu Statue Gewandelten prunkt ein weiter Sternenhimmel.

Text: Kulturjournalist  Manfred Jahnke
Fotos: Matthias Baus