Dornröschen … oder ein ambivalenter Kuss in einer Welt der Polarität von Gut und Böse

09. Februar 2024 · von Christina Körner

Kulturwissenschaftlerin Christina Körner schaute sich eine Probe für das Ballett „Dornröschen“ an, bei der sich alles um die dunkle Fee Carabosse und um die helle Fee Celeste dreht, und natürlich um Aurora, die Tochter des Königs und Königin sowie die Prinzen Désiré, Vogelsang, Springinsfeld und den fremden Prinzen. Vor der Premiere sprach sie mit Choreograf Steffen Fuchs.

Christina Körner: „Dornröschen“ von Tschaikowski gilt als Perle der klassischen Ballette und als Kronjuwel in der Triade seiner Kompositionen. Ein „Märchen-Ballett“, das bis heute zu einem der Populärsten gehört – auch Pjotr Iljitsch Tschaikowski selbst hielt es für sein bestes Ballett.

Steffen Fuchs: Aufgrund der Tiefe des zugrundeliegenden Märchens von Perrault und den Brüdern Grimm haben Choreografen wie Marius Petipa oder Mats Ek sich mit diesem Werk auseinandergesetzt. Ich selbst schließe mit meiner Version eine Auseinandersetzung mit Tschaikowskis drei Balletten ab. Mit dem Koblenzer Ballettensemble haben wir bereits im Jahr 2018 „Nussknacker“ aufgeführt, bei dem wir extrem nah am Original blieben. Es folgte im Jahr 2020 der assoziativ interpretierte „Schwanensee“.

Christina Körner: Und nun „Dornröschen“ begleitet vom Staatsorchester Rheinische Philharmonie. Was steckte hinter der Idee, die Trilogie zu zeigen?

Steffen Fuchs: Es hat vor allem großen Spaß gemacht und es hat mich erstaunt, wie unterschiedlich die Musik von Tschaikowskis drei Ballettstücken ist. Aber hier ist nochmal eine andere Qualität, die Tiefe und Dimension deutlich geworden. Es ist keine Gebrauchsmusik. Für jedes Tschaikowski-Ballett hatte ich unterschiedliche Ausstatter:innen für Kostüme und Bühne gewählt. Ich weiß es sehr zu schätzen, dass die Ausstatter:innen im Team alle ihre individuellen Qualitäten und Ästhetik mitbringen, wie hier Ines Alda.

Christina Körner: Dein „Dornröschen“ ist anders – und der Kuss spielt eine ganz entscheidende Rolle in der Inszenierung?

Steffen Fuchs: Ja, aber vorweg: alle, die „Dornröschen“ erwarten, werden „Dornröschen“ sehen! Sowohl die Musik als auch die unterschiedlichen Stationen der Geschichte. Mit einem Unterschied: Es gibt keine Spindel, keine Rose oder Spritze die tötet, sondern einen Kuss, der nicht nur tödlich ist, sondern auch wieder zum Leben erweckt.  

Christina Körner: Also die Ambivalenz des Kusses.

Steffen Fuchs: Ich muss mich ja immer fragen, warum mache ich das Stück? 

Christina Körner: Und zu welchem Ergebnis kamst du?

Steffen Fuchs: Ich hatte Lust, dieses Märchen, mit dem ich als Kind nicht zurechtgekommen bin, endlich zu begreifen, was mir damals nicht möglich war. Heute weiß ich: Hier herrscht nicht das typische Schema, dem alle Märchen folgen – normalerweise muss sich der Held beweisen…

Christina Körner: … stimmt, üblicherweise hat der Held drei Prüfungen zu bestehen…

Steffen Fuchs: Genau. Hier ist der Held einfach nur pünktlich da! Wahrscheinlich ist „Dornröschen“ deshalb das deutscheste aller Märchen. Eine weitere Antwort, gab mir Tschaikowski: Die musikalischen Themen der beiden Feen. Tschaikowski selbst hat gesagt, dass es ihm in der Musik um die Kraft der beiden Feen geht. Das haben wir dann im Team als Ausgangspunkt genommen – und der zweite Ansatz war, wenn ich in die Musik reinhöre, entdecke ich geniale Zusammensetzung von großen symphonischen Szenen und kleineren Kabinettstücken. 

Christina Körner: Ungekürzt ist das Ballett „Dornröschen“ im Original 3,5 Stunden lang…

Steffen Fuchs: …und für eine Compagnie von 155 Tänzer:innen gedacht. So viele sind wir ja nicht mal ansatzweise. Dieses Mal haben wir zwei Besetzungen erarbeitet. Im Kreationsprozess frage ich kontinuierlich nach der Relevanz des Werkes: Was interessiert uns daran – was sagt uns das Stück heute!

Christina Körner: Aber geht es nicht vor allem um Gut und Böse? Wenn die Fee Carabosse den Fluch nicht aussprechen würde, wäre das Stück nach dem ersten Akt zu Ende.

Steffen Fuchs: Es wirft ganz wichtige universelle Frage auf. Wie gut ist das Gute wirklich, wenn es sich der gleichen manipulativen Werkzeuge bedient wie das Böse? Das Böse ist interessant, Carabosse treibt die Handlung voran. Es ist jedoch keine Travestierolle wie in einer traditionellen Lesart: Beide Rollen der Feen sind sehr polar definiert. 

Christina Körner: Das bedeutet, Mann trifft auf Frau, Licht auf Schatten, Weiß auf Schwarz, Zerstörung auf Wachstum!?

Steffen Fuchs: Carabosse ist jedoch nicht aus einem Impuls, einem Affekt heraus zerstörerisch, sondern er verkörpert das zerstörerische Konzept. Dessen Gegenpol bildet Celeste, die Entwicklerin und Bewahrerin. Beide Konzepte bedingen einander und bilden eine fragile Balance.

Christina Körner:  Aus dem Volksmärchen wissen wir, dass Carabosse wütend war, weil sie nicht zum Geburtsfest eingeladen war. Da fehlte bei den Brüdern Grimm der goldene Teller. 

Steffen Fuchs: Das glaubt doch heute keiner mehr …. 

Christina Körner: Die Bühne ist in der scheinbaren Formalität doch sehr märchenhaft und poetisch. Und mit den Kostümen verhält es sich auch so. Wir sehen einen Wald im Hintergrund mit schwarzen Baumstämmen und rosafarbenes Laub aus Tüll. Die Tänzer:innen in durchsichtigen, feinen Stoffen: Ein bisschen angelehnt an Barockkostüme – mit kurzen Ballonröckchen und Puffärmeln. Moderne Pastellfarben dominieren. Wenn das Laub von den Bäumen weg ist, sieht es aus wie ein schwarzer Dornenwald.

Steffen Fuchs: Richtig! Wir Deutschen und der Wald! Auf der einen Seite Celeste in Weiß und weißem Licht. Auf der anderen Seite Carbosse in Schwarz, und sein schwarzer, abgebrannter Wald. Die Bühne ist relativ zugebaut und das ist für klassisches Ballett ziemlich ungewöhnlich. Es hat enormen Spaß gemacht zu sehen, wie die Tänzer:innen sich mit dem  Raum vertraut gemacht haben. 

Christina Körner: Durch Carabosses Kuss wird Aurora in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Prinz Désiré muss sie nun im geheimnisvollen Wald suchen und erlösen. Was nicht leicht ist – denn alle Tänzer:innen tragen Kleider und Perücken und sehen aus wie Aurora. 

Steffen Fuchs:  Ja, Désiré muss beweisen, dass er der Richtige ist. Eine Aufgabe, die ihm Carabosse stellt: Er muss in den verwirrenden Spiegelbildern seine Aurora erkennen. 

Christina Körner: Aurora ist zauberhaft, denn sie hat die guten Eigenschaften der Feen aus der Märchenerzählung bekommen. Dein Rollenverständnis von ihr ist jedoch sehr zeitgemäß. 

Steffen Fuchs: Wir befinden uns schließlich im 21. Jahrhundert. Aurora ist eine junge Frau, die weiß, was sie will. Sie ist diejenige, die Désiré klarmacht „ich habe Interesse an dir“. Sie treffen sich bereits auf Auroras Geburtstagsfest. Das ist der große Unterschied zur traditionellen Version. Die selbstbestimmte Frau erwartet nicht, dass sie nur erobert wird. Aber sie muss warten und zuhören – bis Désiré sagt „ich mag dich auch“. 

Christina Körner: Der Schluss ist offen…

Steffen Fuchs: Ja, die Balance ist zwar temporär wiederhergestellt – aber die Feen haben noch nicht geklärt, wer von beiden die Mächtigere ist – es könnte bedeuten: Noch eine Runde! 

Text: Kulturwissenschaftlerin Christina Körner
Fotos: Matthias Baus