Markus Dietze, vor knapp einem Jahr haben wir über die aktuelle Spielzeit gesprochen, und da meinten Sie, dass Sie vor keinem der geplanten Stücke so einen großen Respekt hätten wie vor Richard Wagners „Parsifal“. Hat sich das denn seither gelegt?
Markus Dietze: Das ist ja nicht meine erste Wagner-Inszenierung, und wie immer ist es so, dass während der Probenarbeit die Faszination immer stärker wird, vor allem durch die Musik. Aber ich habe professionell kritische Gefühle zur Dramaturgie des Werks. Es ist einfach so, dass Wagner von einer grundsätzlich anderen Sicht auf Theater ausgeht als ich.
Das heißt?
Ein Werk versucht normalerweise, ein theatrales Timing zu haben. Aber „Parsifal“ hat das nicht, „Parsifal“ hat ein oratorienhaftes Timing. Gute Theaterschöpfer, Komponisten, Regisseure, Autorinnen und Autoren interessieren sich meistens auch für ziemlich banale Fragen. Zum Beispiel: In dieser Szene spielen fünf Leute mit. Wenn jetzt eine Figur von den fünfen sich sehr lange veräußert, singt oder spricht, was machen die anderen vier? Aber das ist Richard Wagner alles egal. Da redet eine Person minutenlang, und mal redet die mit uns, mal mit sich, mal redet sie mit einer Figur, die sie vorher sechs Minuten nicht interessiert hat. Es gibt unfassbar viele Logikbrüche. Das Werk an sich will aber geschlossen sein, und das passt aus Sicht des Theaters halt nicht zusammen. Es ist wirklich eine Herausforderung, das zu inszenieren.
Ich tue mich mit „Parsifal“ verhältnismäßig schwer, weil ich gar nicht so richtig weiß, was dieses Stück überhaupt von mir will. Die Handlung finde ich im Vergleich zu anderen Wagner-Opern fast vernachlässigbar, und trotzdem hat das einen Sog, den ich gar nicht richtig beschreiben kann. Der begründet sich sicher in der Musik, aber da ist auch noch etwas anderes.
Die Frage „Was ist Erlösung?“ ist eine der entscheidenden Fragen in „Parsifal“. Und die Erlösung wird herbeigeführt durch eine Person, die bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Die Person muss unbedingt sein, die darf nichts wissen, darf keinen Kontext kennen und muss das Werkzeug der Lösung erhalten, ohne zu verstehen, wieso. Parsifal erfüllt diese Anforderungen im zweiten Akt. Er besiegt das Böse und bekommt den heiligen Speer, mit dem er den verwundeten Amfortas erlösen könnte.
Aber jetzt passiert etwas Hochinteressantes: Parsifal geht zwischen dem zweiten und dem dritten Akt nicht sofort zu Amfortas, sondern er wandert lange durch die Welt, während alle Beteiligten viel älter werden. Der unwissende Parsifal bekommt im zweiten Akt das Werkzeug für die Erlösung und im Anschluss geht er 60 Jahre durch die Welt und lernt. Und erst, als er zurückkommt, weiß er, was er zu tun hat. Das ist dann auch für Tobias Haaks, der den Parsifal singt, eine große Erleichterung, weil er nicht bis zum Ende des Stücks den tumben Toren spielen muss.
„Parsifal“ verlangt nach einem komplett eigenständigen Zeichensystem der Interpretation, dass mit dem geschlossenen Zeichensystem des Werks selbst in Dialog tritt oder sich in ein Spannungsverhältnis setzt. Aus dieser Spannung resultiert dann erst die eigentliche Interpretation. Sehr, sehr flapsig daher gesagt: man kann man machen, was man will – immer bedeutet es irgendwas und hat eine irre Wirkung. In gewisser Weise darf und muss man als Interpretierender genauso naiv und unbedingt sein, wie Parsifal. In unserer Inszenierung zum Beispiel dürfen am Schluss alle gehen, dann bleibt nur noch die Musik auf der Bühne – das ist erlösend!
Im zweiten Akt, als Parsifal in den Zaubergarten kommt und von den Blumenmädchen verführt werden soll, da haben Sie das in der Probe scherzhaft als „Porno aus dem 19. Jahrhundert“ bezeichnet. Ich fand das erst lustig, aber später fiel mir auf: Das ist eigentlich inszeniert wie ein Porno, nicht als Geschichte oder als Handlung, sondern eher als strukturelle Situation.
Das ist ein interessantes Thema, wenn man Pornographie als Kunstform betrachtet und nicht als Schmuddel. Dann kann man sich fragen, ob man Richard Wagner als Musikpornographie bezeichnen darf. Diese Musik sagt oft: Wir suchen nach Erregungszuständen fürs Publikum mit Hilfe von handwerklichen Maßnahmen. Also nicht über eine möglichst interessante Handlung, sondern über handwerklich erzeugte Erregung. Bei diesen Blumenmädchen ist ja das Verrückte: Das sind richtig richtig viele Frauen! 18 Chordamen und sechs Solosängerinnen, da sind 24 Frauen auf einer nicht sehr großen Bühne, das ist richtig voll, man kann sie nicht mehr individuell unterscheiden, sondern es ist wie ein großes Lebewesen!
Sie hatten einmal gesagt, dass Sie in der aktuellen politischen Diskussion eine allgemeine Verachtung symbolischer Handlungen spüren. Aber alles, was in „Parsifal“ passiert, ist im Grunde symbolisch.
Ja, in „Parsifal“ wird gesagt: Symbolische Handlungen werden die Welt retten! Im Prinzip ist die Handlung so, dass die Welt von jemandem erlöst wird, der kann gar nichts. Parsifal kann auch als Künstler gesehen werden, der gesellschaftlich völlig nutzlos scheint. Der kann keinen handwerklichen Beruf, der kann nicht kochen, der kann kein Jura, Mathematik, BWL, Arzt ist er auch nicht, der kann nichts. Ein Held, der eigentlich gar nichts kann. Aber er kann offensichtlich ziemlich geil singen.
Und diese Art der Utopie, nämlich dass die Kunst die Welt heilen kann ist ein für mich wirklich zentraler Teil des Werks Richard Wagners. Natürlich gibt es bei Wagner den Antisemitismus, die Frauenfeindlichkeit, die Feindlichkeit gegenüber Diskursprozessen.
Aber dann gibt es auch die Idee, dass sich die Welt durch Kunst erlösen lässt! Und die finde ich verfolgendswert. Nicht, weil ich glaube, dass wir Herausforderungen und Nöte wie Corona oder einen Angriffskrieg völkerrechtswidriger Art durch Kunst irgendwie heilen, verhindern oder lösen können. Aber wenn unsere Gesellschaft das alles überstehen will, dann brauchen wir so Dinge wie Kunst und Kultur, die dem reinen Nützlichkeitsdenken entzogen sind.
Ich hatte diese symbolischen Handlungen eigentlich immer religiös interpretiert – „Parsifal“ ist ja eindeutig von christlicher Symbolik durchdrungen. Tut man sich eigentlich mit diesem Stoff schwerer, wenn man keinen Zugang zu Religion und Glauben hat?
Die christliche Symbolik in „Parsifal“ spielt nur vermeintliche eine übergroße Rolle. Ich finde, sie ermöglicht oder verbaut auch nicht den Zugang zum Werk. Die christliche Symbolik wird von Wagner verarbeitet und genutzt. Dann hat Wagner auch noch was über Buddhismus, Hinduismus und Judentum gelesen und schließlich noch seine Privatreligion dazugegeben.
Wenn man – so wie ich – mit diesen christlichen Symbolen aufgewachsen ist, dann ist man da relativ immun. Wir spielen in der Inszenierung auch mit blauen Kreuzen. Aber nicht, weil das ein christliches Symbol ist, sondern weil das in diesem Kontext das für mich richtige Bild ist.
„Parsifal“ ist kein christliches Werk, auch wenn das sicher viele gerne so sehen würden. Religion ist ja kein Selbstbedienungsladen. Man holt sich da nicht ein paar Symbole raus, und dadurch wird etwas zu einem religiösen Werk. Jake Heggies „Dead Man Walking“, das wir im Januar gezeigt haben, hingegen ist für mich zum Beispiel ein Stück, dass ich durchaus als „christliches Werk“ beschreiben würde.
Und jetzt? Wo die Arbeit an „Parsifal“ abgeschlossen ist, machen Sie nochmal einen Wagner?
Ich habe ein ganz tolles Konzept für „Die Meistersinger von Nürnberg“, das würde ich sehr gerne mal machen. Vielleicht ist das was für die Spielzeit, in der das Theater Koblenz saniert wird. Mit Aufführungen in der Rhein-Mosel-Halle.
Andererseits gibt etwas in mir, der sagt: „Als nächstes mache ich Tschechows ,Kirschgarten‘, das ist schön, geradezu ein Spaziergang.“ Und dann sitze im Büro und denke: „Die Musik ist bei Wagner halt einfach erhaben!“ … Ich glaube das war jetzt alles sehr chaotisch.
Das ist doch dem Sujet angemessen.
Interview: Falk Schreiber
Fotos: Matthias Baus