Klara ist schwanger. Nach einem sexuellen Übergriff durch ihren Verlobten Leonhard. Der sich in der Folge auch in anderer Hinsicht als Unsympath erster Güte erweist: Leonhard löst die Verlobung, sobald er erkennt, dass er keine Mitgift zu erwarten hat, und schiebt die Tatsache, dass Klaras Bruder Karl des Diebstahls verdächtigt wird, als Schutzbehauptung vor. Was die Situation für die junge Frau fatal macht: Ihre Mutter erleidet nach der Verhaftung Karls einen Herzinfarkt, und vom gefühlskalten, tief religiösen Vater ist keine Hilfe zu erwarten.
Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“ galt nach der Uraufführung 1846 als letztes großes Bürgerliches Trauerspiel der Theatergeschichte – und als eines der ersten Stücke, das die Handlung explizit im Kleinbürgertum ansiedelte. Ursprünglich wollte der Autor das Stück schlicht „Klara“ nennen, der Verlag regte einen anderen, verkaufsfördernden Titel an. Weswegen Hebbel die biblische Figur der reuigen Sünderin Maria Magdalena einsetzte. Was im 19. Jahrhundert Erfolg versprach, macht den Stoff heute altertümlich – aber Regisseurin Johanna Hasse, Dramaturgin Caro Thum und Hauptdarstellerin Viktoria Schreiber (Klara) entdecken ganz gegenwärtige Figuren in Hebbels Welt.
Die Figur Klara macht mich wahnsinnig. Ich möchte die ständig schütteln, damit die sich endlich aus ihrer desolaten Situation befreit.
Viktoria Schreiber: So ging es mir auch ein bisschen. Es ist ja nicht so, dass sie ständig jammert, sie kommt noch nicht einmal zu Wort. Immer kommen andere auf sie zu, und sie reagiert nur: „Ja, Vater“, „Ja, Mutter“. Klara befindet sich in einer wahnsinnig beengten Situation und hat überhaupt keine Luft, um etwas zu hinterfragen. Die bekommt einfach eine Ohrfeige nach der anderen.
Johanna Hasse: Ich finde aber, Hebbel lässt Klara schon richtig reden und uns an ihren Gedanken teilhaben, auch im Vergleich mit zeitgenössischen Stücken wie „Emilia Galotti“ und „Luisa Miller“.
Wobei das in Ihrer Fassung ja kein historisches Stück ist. Das spielt in der Gegenwart.
Caro Thum: Auf jeden Fall. Die Kostüme, der Raum, die Requisiten sind aus der Gegenwart. Aber jeder Zuschauer weiß natürlich, dass das ein Bürgerliches Trauerspiel ist.
Hasse: Bei der Strichfassung habe ich sehr viel weggenommen, was historisch ist, zum Beispiel bei dem Gottesglauben. Bei uns geht es mehr um die familiären und gesellschaftlichen Engeverhältnisse, in denen diese ganze Geschichte stattfindet.
Bei Hebbel steht die Religiosität von Klaras Vater im Zentrum. Bei Ihnen wird das mal kurz erwähnt, aber wirklich eine Antriebsfeder ist der Glaube nicht mehr.
Hasse: Wir haben schon noch ein paar Passagen drin gelassen, in denen die Religion Thema ist. Aber das ist nicht das einzige, da ist auch sein Ehrbarkeitsbegriff. Dass er sagt: Man ist rechtschaffen, es gibt Regeln und Normen, einen Verhaltenskodex! Das ist wie ein Schutzschild für ihn, und da ist die Frömmigkeit nur ein Aspekt. An einer Stelle sagt er, dass es nichts Schlimmeres geben würde, als wenn die Schande über ihn kommen würde, wenn er zum Gerede werden könnte – das ist wichtig, und das hat nicht unbedingt etwas mit Religion zu tun, sondern mit einem Verhaltenskodex, den er als Stütze braucht, um durchs Leben zu gehen. Er hat ein großes Bedürfnis, in dieser Gesellschaft nicht fehlbar zu werden – und als Familienoberhaupt muss er natürlich auch gucken, was seine Familienangehörigen so machen. Sein Sohn Karl verhält sich anders, der geht kegeln, vielleicht macht er Glücksspiele oder Party, jedenfalls führt er kein ehrbares und rechtschaffenes Leben, und deswegen ist der Vater ihm böse. Weswegen dann eben Klara für die Familienehre aufkommen muss und letztendlich auch für die Ehre des Vaters.
Thum: Der Vater kommt nicht aus seiner Sozialisierung raus. Und das ist ja nicht historisch, das kann uns auch passieren. Dass wir was mit uns rumtragen, Glaubenssätze oder Regeln, von denen wir uns erstmal befreien müssen. Klaras Vater tut das nicht, er zieht es nicht einmal in Erwägung.
Manche Figuren bieten Klara Auswege aus ihrer Situation an. Zum Beispiel hört der Sekretär, der in sie verliebt ist, dass Leonhard sich von ihr lossagt, und das kommentiert er so: „Wunderbar!“ Und er hat recht, sie ist den Trottel endlich los. Weswegen nimmt sie diese Auswege denn nicht an?
Thum: Sie sagt „Diesen schlechten Mut habe ich nicht.“ Klara ist ja schwanger, und sie würde es nicht fertigbringen, dem Sekretär ein Kind unterzujubeln, weil sie den wirklich liebt.
Hasse: Ich habe mich auch gefragt, weswegen sie den Sekretär nicht nimmt – der ist doch super. Aber sie muss ehrlich sein, und er antwortet ihr: „Darüber kann kein Mann weg.“ Das ist ein Schlag, den sie ins Gesicht bekommt. Dass der Sekretär damit was ganz anderes meint, das sagt er ihr nicht. Das ist ja auch eine komplette Misskommunikation.
Wissen die Beteiligten eigentlich, dass Klara schwanger ist?
Hasse: Der Vater hat eine Ahnung – er sagt „Es kommt mir vor, als ob du’s schon bist!“ Insofern: definitiv. Wir gehen alle davon aus, dass er was ahnt. Aber es wird alles nur angedeutet, niemand spricht das aus, außer ganz am Ende Karl. In „Maria Magdalena“ geht es auch darum, dass niemand ernsthaft mit dem anderen spricht, dass niemand Lösungsansätze überlegt, wie man es in einer gesunden Familienstruktur machen würde. Alle weichen diesen Problemen aus.
Thum: Allerdings: Wenn der Vater Klara ernsthaft fragen würde, wie es ihr geht, dann würde sie es ihm nicht sagen.
Schreiber: Wenn die Mutter nicht gestorben wäre, hätte sie es der vielleicht gesagt. Aber nachdem die Mutter gestorben ist und Karl die Familie in Ungnade gebracht hat, weil er als Dieb verdächtigt wird, ist der Dialog dem Vater unmöglich. Es gibt dann keinen Raum dafür, das zu sagen.
Hebbel nannte das Stück zunächst „Klara“ und gab ihm erst später den biblischen Titel „Maria Magdalena“. In Koblenz ist Klara aber eine heutige Figur – ist die biblische Maria Magdalena noch im Subtext da?
Thum: Wir zeigen eine Fußwaschung, die steht bei Hebbel nicht. Die biblische Maria Magdalena ist die reuige Sünderin, die Prostituierte, die Jesus die Füße wäscht und mit den Haaren abtrocknet … Und das obwohl es von Hebbel als Gesellschaftskritik angelegt wurde.
Hasse: Naja, in der Bibel steht aber auch, wie Jesus zu den Pharisäern sagt: „Wer viel liebt, dem wird auch viel vergeben!“ Und Maria Magdalena gibt ihm durch die Fußwaschung so viel Liebe, dass er ihr alles vergeben kann. Die Pharisäer dagegen geben Jesus gar nichts. Das hat schon was zu tun mit dem Stück: Es geht darum, dass eine menschliche, christliche Gesellschaft eigentlich einer unehrenhaft schwangeren Klara vergeben würde. So etwas wie Gnade, Mitgefühl, Menschlichkeit würde sich in einer wirklich christlichen Familie zeigen.
Und was ist Leonhard für jemand? Der fällt aus dieser Gesellschaft ein bisschen raus, so wie Florian Mania den spielt, bewegt der sich auch anders. Leonhard ist zwar eine böse Figur, aber der ist auch lustig, eine Art Horrorclown.
Hasse: Leonhard ist einer, der im aufkommenden Kapitalismus schaut, wie er Karriere machen kann. Ein Karrierist. Und deswegen hat er mit diesem System, in dem die anderen verhaftet sind, nicht so richtig was zu tun. Der guckt genau auf dieses System, wo es ihm für seinen Aufstieg hilft, er benutzt die bigotten Ehrbegriffe für sein Fortkommen.
Thum: Leonhard hat keine Skrupel. Während der Vater und alle anderen total Skrupel haben.
Leonhard hat Klara einen Brief geschrieben, in dem er sich von ihr lossagt. Aber den hat er schon in der Tasche, lange vorher.
Hasse: Plan B! Leonhard ist von Beruf Kassierer, aber er hat seinen Job ja nicht ethisch korrekt bekommen, sondern ihn sich erschlichen. Klara hätte das nie so gemacht, weil sie grundehrlich ist – auch aus diesem Grund würden sie nie ein Paar abgeben, das mit einer ähnlichen Haltung durchs Leben geht.
Aber Klara und Leonhard sind doch ein Paar. Irgendwas wird sie doch mal an ihm gefunden haben?
Schreiber: Das habe ich mich auch gefragt. Das war wohl wieder mal die äußere Situation. Die Leute drängeln halt: „Jetzt solltest du dich aber langsam mal verloben! Schau mal, der Leonhard, der ist doch ganz nett!“ Und Klara dann so: „Ja, warum nicht?“ Ich glaube, sie fand ihn nicht schrecklich, es wäre halt so okay gewesen.
Thum: Und für die Leute ist es auch okay, wenn es nur so okay ist.
Schreiber: Die Mutter sagt zu Beginn: „Du musst ihn nur so lieben, wie er Gott liebt!“ Damit es funktioniert, muss nicht die große Liebe im Spiel sein. Was natürlich ziemlich hart ist.
Interview: Falk Schreiber
Fotos: Matthias Baus