Über die Herausforderungen und künstlerischen Möglichkeiten einer Open-Air-Produktion“

08. Juli 2024 · von Patrick Mertens

„Carmina Burana“/„Pagliacci“ auf der Festung Ehrenbreitstein – Ein Einblick in die Probenarbeit von Musikwissenschaftler Patrick Mertens

„Carmina Burana“/„Pagliacci“ auf der Festung Ehrenbreitstein – Ein Einblick in die Probenarbeit von Patrick Mertens

Die Sommer-Open-Air-Produktionen des Theaters Koblenz auf der Festung Ehrenbreitstein sind seit der Bundesgartenschau 2011 eine feste Institution im kulturellen Leben der Stadt. Egal ob „Rigoletto“, die „Rocky Horror Show“ oder „West Side Story“ – das Spektrum der Produktionen ist nicht nur äußerst breit, die Atmosphäre auf der Festung (inklusive spektakulärem Blick aufs Deutsche Eck und im Ticketpreis enthaltener Seilbahnfahrt) machen die Vorstellungen auf der Bühne im Retirierten Graben zweifellos zu einem ganz besonderen Erlebnis.

In diesem Jahr stehen mit Carl Orffs „Carmina Burana“ und der Kurzoper „Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo zwei Werke im Rahmen eines Doppelabends auf dem Programm, die von ihrem Inhalt und ihrer musikalischen Faktur nicht unterschiedlicher sein könnten. Carl Orffs 1937 uraufgeführte szenische Kantate nach mittelalterlichen Texten aus einem im bayerischen Kloster Benediktbeuern gefundenen Codex ist ein von energetischen Rhythmen geprägtes Stück mit regelrecht hypnotischer Sogwirkung, das die Mystik und sprachliche Raffinesse der mittelalterlichen Lyrik kunstvoll mit einem eindringlichen, pseudo-archaischen Klangbild kombiniert.

Leoncavallos „Pagliacci“ (1892) hingegen ist ein Paradebeispiel für die ausladend-schwelgerische Expressivität der spätromantischen italienischen Opernschule. Die Geschichte um eine umherziehende Commedia dell’arte-Truppe, deren Hauptdarsteller im Verlauf der Handlung Realität und Theaterspiel zunehmend weniger auseinanderhalten kann und in einem Eifersuchtsanfall während einer Vorstellung seine Frau und deren Geliebten ersticht, ist zudem ausgesprochen charakteristisch für die veristischen Opern dieser Zeit.

Doch wie kam es zu dieser Kombination?

Intendant Markus Dietze, der auch für die szenische Einrichtung der „Carmina Burana“ verantwortlich ist, erklärt, dass ursprünglich für diesen Abend eine Produktion der Orff-Kantate für Chor und Ballett angedacht war, was allerdings aufgrund der Größe der Festungsbühne nicht realisiert werden konnte. Stattdessen entschied man sich für eine konzertante Version – Dietze selbst spricht von einem „inszenierten Konzert mit kleineren Regieeinfällen“ –, die im Rahmen eines Doppelabends gegeben wird. „Wir haben nach einem kurzen Stück gesucht, das man nach der ‚Carmina Burana‘ machen kann“, berichtet Dietze. „Es sollte inhaltlich und musikalisch ganz anders sein, aber genauso wirkungsmächtig. Und so kamen wir auf ‚Pagliacci‘“.

Beide Werke zeichnen sich durch einen außergewöhnlichen Fokus auf den Chor aus, der an diesem Doppelabend besonders groß besetzt ist. Wie Markus Dietze betont, handelt es sich bei „Carmina Burana“/„Pagliacci“ um die Produktion mit den meisten Beteiligten, die je vom Theater im Retirierten Graben gespielt wurde. So singen allein bei der „Carmina Burana“ ganze 70 Personen im Chor mit – neben dem Hauschor und Extrachor (Leitung und Einstudierung: Lorenz Höß) sowie dem Kinderchor der Singschule Koblenz (Leitung: Wolfram Hartleif) sind zusätzlich 16 Chorgäste beteiligt.

Zwei musikalische Welten prallen aufeinander

Doch nicht nur die Anzahl der Sängerinnen und Sänger ist bei dieser Produktion äußerst umfangreich, sondern auch die Menge an Musik, die zu bewältigen ist. „Bei diesem Doppelabend haben die Beteiligten sehr viel individuelle Verantwortung“, erklärt Chordirektor Lorenz Höß. „Sie müssen sich ihre Kräfte über den ganzen Abend einteilen.“ Dass zwei musikalisch so unterschiedliche Werke an einem einzigen Abend miteinander kombiniert werden, bringe dabei die zusätzliche Herausforderung mit sich, zwei ganz unterschiedliche Arten zu singen im Rahmen einer Vorstellung zum Einsatz zu bringen. „Leoncavallos kantable Musik erfordert einen sehr warmen Legato-Sound“, berichtet Höß, „während man für Orff seine Stimme extrem anschärfen muss.“

Ähnlich sieht es Dirigent Felix Pätzold: „Die ‚Carmina Burana‘ besitzt eine extrem motorische Musik, die bisweilen liedhaft schlicht ist“, fasst der musikalische Leiter Orffs Komposition zusammen. „Die Musik zu ‚Pagliacci‘ hingegen ist ‚Emotion pur‘ mit einer enormen dynamischen Bandbreite.“ Für Pätzold sind vor allem die großen musikalischen Gegensätze dieser Produktion sehr reizvoll, die die einzelnen Werke in ganz neuem Licht erscheinen lassen. „Durch die Kopplung mit der ‚Carmina Burana‘, bei der ja der Chor eine zentrale Rolle spielt, wird der Fokus auch bei ‚Pagliacci‘ ebenfalls stark auf den Chor gelenkt“, so Pätzold – etwas, das bei anderen Inszenierungen der Oper oft nicht der Fall ist. Entsprechend bietet die Produktion im Retirierten Graben nicht nur hinsichtlich der Freiluft-Spielstätte etwas sehr Außergewöhnliches, die künstlerische Konzeption des Abends ermöglicht darüber hinaus eine ganz neue Perspektive auf zwei Repertoireklassiker.

Aber wie gestaltet sich eigentlich die tägliche Arbeit auf einer so besonderen Spielstätte?

Die Proben für Open-Air-Produktionen unterscheiden sich, wie man sich leicht vorstellen kann, merklich von denen in einem festen Theatergebäude. Gerade an einem Ort wie der Festung Ehrenbreitstein werden die Produktionsteams von „Carmina Burana“ und „Pagliacci“ bei den Proben vor allerlei Herausforderungen gestellt: Ob Fluglärm während des Soundchecks, interessierte Touristen als Zaungäste oder kurze Regengüsse, jeder Probentag hält neue Überraschungen bereit. Gleichzeitig ist der Aufbau der Produktion, bei der das Orchester hinter dem Bühnenbild sitzt, für die Beteiligten äußerst ungewohnt – gerade für Dirigent Felix Pätzold, der normalerweise vom Orchestergraben (vor der Bühne) aus die Vorstellungen leitet und so die volle Kontrolle über die Musik hat. Bei der Open-Air-Produktion ist er für die Darstellenden hingegen nur über Monitore sichtbar. „Man braucht viel Vertrauen“, sagt Pätzold zur Bühnensituation. „Man muss im Vorfeld sehr viel festlegen und sich gut absprechen, damit alles reibungslos funktioniert. Die Kontrolle über das klangliche Endergebnis wird hier von mir an den Tonmeister abgegeben.“

Wie „Pagliacci“-Regisseurin Inga Schulte betont, eröffnet eine Spielstätte wie die Festung Ehrenbreitstein, neben all den Fallstricken bei der Probenarbeit, aber auch ganz neue künstlerische Möglichkeiten. „Das Gelände wird natürlich in die Inszenierung miteinbezogen“, erklärt die Regisseurin. Das zeigt sich bereits in den gedeckten Ockertönen, in denen das von Christian Binz entworfene Bühnenbild gehalten ist, die wie eine Fortführung der schroffen Festungsarchitektur wirken.

„Pagliacci ist zudem ein wunderbares Stück für eine Open-Air-Produktion“, unterstreicht Schulte. Immerhin handele die Oper von einer umherziehenden Theatertruppe, die im Original eine Komödiendarbietung in ein kleines italienisches Dorf bringt – ebenso wie das Theater Koblenz im Rahmen des Doppelabends seine Produktion auf die Festung Ehrenbreitstein bringt. Schulte hebt diesen Aspekt in ihrer Inszenierung besonders hervor, indem sie die Darstellenden zu Beginn des „Pagliacci“-Teils durch die Sitzreihen des Publikums einziehen lässt und somit das Element des (Wander-)Theaters und das „Spiel im Spiel“ innerhalb der Oper stärker in den Fokus rückt. „Uns geht es um eine moderne Interpretation der Commedia dell’arte“, erklärt Schulte. Entsprechend spielt die Handlung der Oper nicht mehr in einem bäuerlichen Dorf in Kalabrien, sondern findet im Rahmen eines modernen Straßenkarnevals statt.

Zwischen Traditionsbewusstsein und Aktualität

Allgemein arbeitet Schulte in ihrer Inszenierung die Aktualität des „Pagliacci“-Stoffes gezielt heraus, ohne jedoch die Verknüpfung des Werkes mit der Commedia-dell’arte-Tradition zu verleugnen. Dies zeigt sich beispielsweise an den von Mara Lena Schönborn entworfenen Kostümen, die zwar modern gehalten sind, aber gleichzeitig bewusst Formen und Strukturen der Commedia dell’arte übernehmen – vor allem die mit Figuren wie Arlecchino oder Colombina assoziierten Rauten sind als Versatzstücke in den Kostümen omnipräsent.

Des Weiteren legt Schulte in ihrer Inszenierung einen deutlichen Fokus auf Nedda und damit auf die zentrale Frauenfigur der Oper. Die Darstellerin der Colombina, die am Ende der Oper ermordet wird, wird von Schulte merklich ausgebaut. So tritt sie nicht nur, wie von Leoncavallo vorgesehen, als erwachsene Frau auf, sondern auch als junges Mädchen, in dem sich die Träume und Hoffnungen von Frauen widerspiegeln. „Die Figur der Nedda durchleidet in dieser Oper so viel Missbrauch in verschiedenen Formen, bis hin zum Femizid“, begründet Schulte diese Regiesetzung, „leider begegnen immer noch viele Frauen heutzutage ähnlichen Situationen. Die Aktualität dieser Themen sollte sich in unserem Konzept unbedingt widerspiegeln.“ Entsprechend bleibt Nedda nicht, wie in vielen „Pagliacci“-Inszenierungen, im Hintergrund, ihr tragisches Schicksal wird vielmehr gleichberechtigt zu dem des Titelcharakters erzählt.

Markus Dietze bemüht sich in der „Carmina Burana“ ebenfalls darum, überholte Aufführungstraditionen zu hinterfragen und bewusst mit ihnen zu brechen. Bereits zu Beginn spielt Dietze mit den Erwartungen des Publikums, indem er den Chor das berühmte „O Fortuna“ regungslos präsentieren lässt und so die übertriebene Förmlichkeit mancher Konzertdarbietung der Kantate parodiert. „Wir gestalten die ‚Carmina Burana‘ wie ein Popkonzert“, resümiert Dietze. Tatsächlich spielt der performative Aspekt bei dieser Produktion (wie auch in „Pagliacci“) eine zentrale Rolle. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in einer Nummer wie „Circa mea pectora“, wenn Baritonsolist David Pichlmaier seine Partien mit einem Bühnenmikrofon samt Stativ vorträgt und dabei unverkennbar den Habitus eines Rockstars imitiert. Auch im Bereich der Ausstattung gehen Dietze und sein Team bei der „Carmina Burana“ neue Wege: Statt pseudo-mittelalterlicher Mönchskutten, die man von manch älterer Bühnenversion der „Carmina Burana“ vielleicht kennen mag, sind die Mitwirkenden in modische Haute-Couture-Kostüme ganz in Rot gekleidet (Kostüme: Sascha Thomsen) und lediglich ein Puppenspieler (Dietmar Bertram) verweist mit einer Mönchspuppe auf die Aufführungstradition der Kantate.

Zwei kontrastierende Werke verschmelzen zu einem außergewöhnlichen Theatererlebnis

Obwohl die zwei Hälften des Abends unabhängig voneinander inszeniert wurden, lassen sich, wie schon bei einem kurzen Einblick in die Probenarbeit deutlich wird, interessante Parallelen zwischen den beiden Teilen erkennen. Manche hiervon, wie einige Ähnlichkeiten im Requisitenbereich, sind, so Markus Dietze, ganz zufällig zustande gekommen. Andere wiederum, wie die jeweils herausgehobene Rolle des Chores, die Betonung des Performativen oder auch die Reflexion bestimmter Aufführungstraditionen, werden durch die Kombination der beiden unterschiedlichen Werke erst sichtbar. Dass jedes der zwei Stücke zudem (auch für sich betrachtet) eine enorme Popularität sowie eine große Zugkraft besitzt, sorgt entsprechend für beste Voraussetzungen für einen außergewöhnlichen und zweifelsohne sehr abwechslungsreichen Theaterabend auf der Festung Ehrenbreitstein.

Text: Musikwissenschaftler Patrick Mertens
Fotos: Matthias Baus