Eindrücke zu „Der Schaum der Tage“ von Boris Vian
„Der Schaum der Tage“, der Roman des französischen Jazztrompeters, Chansoniers und Autors Boris Vian (1920 – 1959), gehört zu den schönsten und merkwürdigsten Romanen des 20. Jahrhunderts. Bei seinem Erscheinen 1947 wurde allerdings von diesem Buch kaum Notiz genommen, erst nach dem Tod des Autors 1959 entwickelte sich „Der Schaum der Tage“ zu einem Kultroman, der es in die Top Ten der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts geschafft hat.
Zur Vorlage: der Roman
In seinem Roman entwickelt Vian eine surrealistische Methode, die Absurdes, Übernatürliches und Wahres bunt durcheinandermischt, oder, um es mit den Worten des Autors aus seiner Vorrede zu benennen:
„Es gibt nur zwei Dinge: die Liebe, in allen Spielarten, mit schönen Mädchen, und die Musik von New Orleans oder von Duke Ellington. Alles Übrige mag verschwinden, denn alles Übrige ist hässlich, und die Beweiskraft der folgenden Seiten beruht auf der Tatsache, dass die Geschichte vollkommen wahr ist, weil ich sie von Anfang bis Ende erfunden habe.“*
In der Tat entwickeln sich die Liebesgeschichten aus der Langeweile der Freunde Colin und Chick, beide snobistisch und voller Sehnsucht nach einem schönen Mädchen. Und tatsächlich findet Colin seine Chloé (übrigens: „Chloé“ ist auch eine berühmte Nummer von Duke Ellington) und Chick seine Alise. Colin und sein schönes Mädchen lieben sich so sehr, dass sie heiraten. Während der Hochzeitsreise wächst Chloé in der Lunge eine Seerose, die vergeblich mit immer neuen frischen Blumensträußen behandelt wird, die Colin in die Verarmung treiben und Chloé doch nicht das Leben retten können. Eine wunderbare Liebesgeschichte, die tragisch endet und mehr noch an Colin und dem Verlust seiner luxuriösen Behausung vorführt, wie Arbeit hässlich macht.
Die Geschichte des anderen Paars erscheint noch absurder. Zwar liebt Chick sein schönes Mädchen, aber seine Liebe zu Jean-Sol Partre (nicht zufällig eine Verballhornung des Namens von dem französischen Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre, in dessen Kreis Vian eingebunden war) ist stärker. Er sammelt nicht nur dessen Veröffentlichungen, sondern auch Reliquien wie eine Hose oder ein Pfeifenmundstück von Partre. Voller Verzweiflung macht sich Alise, nachdem Chick seine Heiratspläne aufgekündigt hat, auf den Weg, alle Buchhandlungen, die Partre verkaufen, anzuzünden und verbrennt dabei. Gleichzeitig wird Chick von der Finanzpolizei, die Steuern eintreibt, erschossen.
„Der Schaum der Tage“ erzählt nicht nur davon, wie romantische Liebesgeschichten tragisch kippen, sondern auch von Verarmung, von der Verödung einer Welt, vom Scheitern in der Arbeitssuche (Colin), von Freundschaft, kurz vom Gang in die Tiefe, vom gelangweilten Sunnyboy, der sich einen eigenen Koch, Nicolas (der mit Isis eine weitere Liebesgeschichte hat), hält, darüber hinaus einen großen Haushalt führt, der mit jedem Schritt in die Verelendung schrumpft. Oder von den Mäusen, die im Haus die blind gewordenen Kacheln blank scheuern. Vian findet viele solche Bilder voller Poesie, die sich übereinander schieben, eine Collage, die viele Perspektiven öffnet und in überraschenden Wendungen sich überschlägt.
Ein Interview mit der Regisseurin Katharina Kummer
Und das soll nun alles auf dem Theater erzählt werden? Und das auch noch im Puppentheater, geht das überhaupt? Und wie das geht!
Katharina Kummer, die in Koblenz keine unbekannte Regisseurin ist, hat eine Spielfassung geschaffen, die sich einerseits eng an den Handlungen und den Figuren der Vorlage hält, andererseits aber auch auf das fokussiert, was die surrealistischen Bilder zu verdecken scheinen, nämlich die soziale Situation der Akteure. Sie tut es aber auf eine Art und Weise, die die Perspektivenvielfalt Vians in das Theater hineinrettet. Das hat viel mit den Erfahrungen von Katharina Kummer zu tun, die nach ihrer Ausbildung an der Ernst-Busch-Schule Berlin als Puppenspielerin ein paar Spielzeiten am aus der Szene herausragenden Puppentheater Halle engagiert war. Und da wäre darüber hinaus noch ihre Regiearbeit, die performative Momente mit Elementen des Puppenspiels verbindet, Erfahrungen, die in „Der Schaum der Tage“ eingegangen sind. Was sie dabei besonders an Vian interessiert, hat Katharina Kummer in einem Interview mit dem Autor dieses Artikels formuliert, das hier vollständig zitiert wird.
Manfred Jahnke: Wie sind Sie auf den Roman gestoßen? Was hat Ihr Interesse geweckt?
Katharina Kummer: Ich inszeniere ja nun schon zum vierten Mal in Koblenz und vor einigen Jahren saß ich mit der Chefdramaturgin Juliane Wulfgramm bei einer Besprechung im Café. Sie erzählte mir von dem Roman, der für sie persönlich eine große Bedeutung hat. Das geht übrigens fast allen so, denen ich mittlerweile erzählt habe, dass ich ihn auf die Bühne übersetze. Ich bin sofort darauf angesprungen. Er ist als surrealistischer Text, in dem nahezu alles belebt ist, prädestiniert für unser Metier. Er hat mir auch Lust auf Puppe gemacht in dem Sinn, wie auch das fachfremde Publikum Puppe versteht, also als eine gestaltete Theaterfigur. In den letzten Jahren habe ich ja meist den Puppenbegriff sehr weit und abstrakt gefasst, aber in die Welt dieses Romans passen klassische Puppen perfekt!
Manfred Jahnke: Wie eng bleiben Sie am Roman? Für welche Handlungsstränge haben Sie sich entschieden? Sie haben gerade auf die Affinität des Romans zum Puppentheater hingewiesen, dennoch noch einmal die Frage: Warum haben Sie sich für das Genre Puppentheater entschieden?
Katharina Kummer: Ich bleibe, was den Plot angeht, sehr eng am Roman. Storylines gilt allerdings nie mein Hauptinteresse, sondern Motiven oder auch Motivsträngen. Hier macht die Übersetzung in ein anderes Medium einen großen Shift nötig. Die Über-Fülle an Bildern und Motiven, die sich im Roman durch die Sprache transportiert, übertrage ich ins Medium Theater, indem ich unterschiedlichste Spielweisen und Ästhetiken collagiere. Der surrealistische Text wird dadurch zum bewegten, belebten und choreografierten Bilderbuch. Die Bühne und die Kostüme bilden eine Art Traummasse – die Folie, auf der all die bizarren Erscheinungen des Romans entstehen. Die Puppen entspringen bewusst ganz verschiedenen künstlerischen Handschriften. Meine Entscheidung, die Hauptfiguren des Romans von allen drei Spielerinnen spielen zu lassen, hat zur Folge, dass sich sogar noch innerhalb jedes einzelnen Charakters eine Multiperspektivität auffaltet. Hinter jeder Figur erscheint ein Kaleidoskop vorstellbarer Innenwelten. Der Körper der Figur als Puppe ist zwar immer der gleiche, aber dadurch, dass er jeweils von unterschiedlichen Spielerinnen belebt wird, wohnen in einem Wesen immer mehrere Geister, wird ein Körper von vielen Seelen durchzogen. Somit ist die Inszenierung auch ein Bühnenessay über die Frage: Was an uns ist eigentlich essentiell und wie viele Geister oder Motive aus Menschen, Träumen und Zeiten ziehen durch uns hindurch?
Noch ein Wort zu Ihrer Frage, für welche Handlungsstränge – die ich ja als Motivstränge betrachte – ich mich entschieden habe: Die Liebesgeschichte, die zum Beispiel die Verfilmung ins absolute Zentrum rückt, ist bei mir nur eine Ebene von vielen. Wie Sie sehen, ist die Chloé-Figur bei mir auch die am wenigstens ausgestaltete – das habe ich so entschieden, weil Chloé auch im Roman, so, wie ich ihn lese, in erster Linie Projektionsfigur des wilden Sich-Verlieben-Wollens von Colin ist. Das Objekt dieser Verliebtheit bleibt sehr unprofiliert. Viel eindrücklicher als Chloé ist ihre Krankheit, die eifersüchtige Seerose. Mich persönlich hat am meisten beeindruckt, wie Vian inmitten des verschnörkelt grotesken Bildfeuerwerks, das sich als knallbunte Collage verkleidet, eigentlich auf messerscharfe Weise die sozialen Verhältnisse und den sozialen Abstieg Colins zeichnet. Für mich ist der Roman in erster Linie eine von einigen anderen Motivsträngen – wie Liebe, Krankheit, Sucht, Krieg, Kunst und Arbeitswelt – umrankte Sozialstudie. Alle anderen Motivstränge sind an das Zentrum dieser Analyse sozialer Verhältnisse angebunden, sie ist meiner Ansicht nach der Knotenpunkt.
Manfred Jahnke: Sie haben in einem Interview gesagt: „Mich interessiert Theater in der Hinsicht, wie und wo es aus dem Ritual stammt.“ Nun haftet dem Puppentheater in seiner langen Geschichte die Sinnhaftigkeit eines Rituals an. Inwieweit versuchen Sie das Religiös-Ritualhafte des Genres in Ihrer Arbeit zu aktivieren?
Katharina Kummer: Das, was Sie religiös-ritualhaft nennen, ist für mich die Grundlage des Puppentheaters. Insofern muss ich diesen Aspekt gar nicht reaktivieren, denn er ist aus meiner Sicht das Element, das das Puppentheater per se umgibt: ein animistisches Weltverständnis, in dem nicht nur Menschen und Tieren oder bestenfalls noch Pflanzen eine Seele unterstellt wird, sondern allem Seienden. Und zu allem Seienden gehören dann auch etwa wie bei Vian schon im ersten Kapitel die Sonnenstrahlen, die Kanalisation, die uns umgebenden Objekte und Erscheinungen. Und meines Erachtens kann auch ein Wort, ein Konzept, eine Vorstellung oder ein Gedanke eine Puppe sein, wenn ich ihr Leben unterstelle, bzw. zugestehe und es damit belebt wird, handelndes Element sein kann.
Im von Ihnen zitierten Interview spreche ich allerdings vom Theater generell und gar nicht speziell vom Puppentheater. Und das Ritualhafte am Theater ist meiner Ansicht nach wiederzugewinnen, indem man sich traut, von einer bestimmten Art des „Verstehens“ sich zu verabschieden. „Verstehen“ im Hinblick auf Theater ist oft geradezu kontraproduktiv. Im Theater, das mich interessiert, und so wie es vom Ritual abstammt, liegt der Fokus auf dem gemeinsamen Erleben, nicht auf dem Verstehen. Das Kostbare und gleichzeitig auch Dramatische des Theaters wie des Lebens ist, dass es sich nur in einem Moment ereignet. Es ist dann vergangen. Wie das Leben. Wer da war, hat es erlebt, wer nicht da war, kann es nicht mehr erleben. Es ist nicht festzuhalten. Es gleicht einem Mysterienspiel, einer Initiation. Und dieses ist natürlich präzis gestaltet.
Manfred Jahnke: Sie arbeiten mit ganz verschiedenen Puppenarten. Aus welchem Grund?
Katharina Kummer: Ich verwende bewusst Puppen von unterschiedlichen Puppenbauern, also mit unterschiedlichen Handschriften. Außer einer Figur von Stefanie Waldner ist keine der Figuren extra für die Inszenierung gebaut. Die Puppen hatten alle schon andere Rollen in anderen Theaterwelten. Es ist eine mit Bedacht zusammengesetzte Collage. Zwei Beispiele: Colin und Alise, die immer wieder und besonders am Ende des Romans/Stücks feststellen, dass sie eigentlich bessere Partner füreinander wären als ihre jeweiligen Geliebten, sind buchstäblich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es sind sehr wertvolle Puppen des in Kalifornien lebenden und in unserer Szene berühmten Puppenbauers Hagen Tilp. Ich kenne die beiden gut. Das Puppentheater Halle hat sie uns freundlicherweise geliehen und ich selbst war damit jahrelang mit ihnen auf Tournee – es waren einmal Figuren aus den „Buddenbrooks“ (Thomas Mann). Also die beiden Romanfiguren, die vom gleichen vornehmen Stande sind, werden verkörpert durch kompliziert zu spielende per se wertvolle Puppen. Chick, der aufgrund seiner ärmlicheren Herkunft und als Bücher-Junkie der Werke und Reliquien des Schriftstellers Jean-Sol Partre nicht die Mittel hat, seine Alise zu heiraten, hingegen ist eine nach einem Entwurf von Lisette Schürer genähte weiche ausgestopfte Stoffpuppe, der man gleich ansieht, dass sie im Gegensatz zu den beiden skulpturenhaften bürgerlichen Gestalten aus Hagens Feder schnell hergestellt ist und ohne Spielerin in sich zusammenfallen muss. Der Konflikt materialisiert sich wie ein soziales Verhältnis meist auch schon von vornherein ganz augenscheinlich: Wie soll der labberige Stoffmann mit den Knopfaugen der bildhauerisch gestalteten Alise zur Seite stehen? Aber natürlich spielt sich die naiv anmutende Figur des Chick umso mehr in unsere Herzen. Denn später, wenn die zusammenpassenden Romanfiguren Alise und Colin sich begegnen, verpassen sie sich wieder. Im Stück wird das dadurch erlebbar, dass zunächst Colin, dann auch Alise bei ihrer großen Annäherung gegen Ende in die Ebene der Menschen wechseln und als solche erkennen müssen, dass sie die Zeit, in der eine Verbindung zwischen ihnen möglich gewesen wäre, längst verpasst haben.
Probeneindrücke
Wenn man den Zuschauerraum betritt, sieht man auf einen von Julia Bosch und Sophia Linhart geschaffenen abstrakten Theaterraum, der nach hinten von einem zweistufigen Podest und einem Himmelsprospekt abgeschlossen wird. Türme aus großen Würfeln – auf einem davon steht ein kleines Hausmodell – und zwei Treppenpodeste stehen an den Seiten, im Zentrum ein Klavier, gelb gekachelt, und vor diesem steht noch ein kleines Klavier mit einer kleinen Puppe. Bänder mit Pianotasten liegen über zwei der Würfel. Die warmen Farben Blau und Gelb dominieren.
Beim Einlass sitzen die Spielerinnen im Zuschauerraum, zitieren im Wechsel und gemeinsam Texte aus der Vorrede Vians, um dann langsam die Bühne zu betreten, alle in Hosen und Jäckchen, Katharina Halus in Blautönen, Svea Schiedung in noch blasseren Blautönen, Anastasiia Starodubova trägt Kariertes, das in Brauntöne übergeht und Carina Wohlgemuth ist ganz in Pink gekleidet. Sie agieren gemeinsam und so, wie die verschiedenen Puppentypen – siehe das Interview mit Katharina Kummer – eine Sinnlichkeit ergeben, so wirkt schon der eigentlich abstrakte Raum ungeheuer sinnlich. Obschon viele Wechsel die Inszenierung von Katharina Kummer prägen, verliert man als Zuschauer nicht den Überblick. Der Text wechselt nicht nur zwischen den Spielerinnen, sondern auch zwischen Dialog und Erzählung. Szenen werden angesagt. Auf den Proben hat Carina Wohlgemuth dazu eine Collage aus Tönen entwickelt, die die Stimmung einer Szene unterstützen. Zum Ende einer Szene hin wird deren Essenz in einer kleinen gemeinsamen Liedeinlage, der etwas Liturgisches anhaftet, noch auf einer anderen Kunstebene zusammengefasst.
Nicht nur der ständige Wechsel zwischen Mensch und Puppen – so werden Erzählpassagen stets von den Spielerinnen vorgetragen –, macht diese Aufführung besonders, die ebenso von dem Wechsel zwischen großen und kleinen Figuren geprägt wird. Aber auch das unterschiedliche Puppenensemble, das zwischen realistisch geschnitzten Figuren wie die von Colin und Alise, einer abstrakten kleineren Figur wie die Stoffpuppe des Chick, oder die grotesk ausgestatteten Figuren der Maus, des Arztes, der eine verfremdete Totenmaske hat, oder des Apothekers mit seiner langen spitzen Nase changiert, entfalten eine Sinnlichkeit, die atemberaubend ist. Man spürt, da weiß man ganz genau, was da erzählt werden soll.
Manchmal arbeitet Kummer auch mit ganz einfachen Effekten, wenn alle drei Puppenspielerinnen eine Figur spielen. Da markieren dann drei Paar rote Stöckelschuhe, dass man gemeinsam eine Figur ist, oder Lippen, in verschiedenen Größen vorgeführt, markieren die Figur der Chloé. Die „Hallenser“ Figuren des Colin und der Alise haben einen melancholischen Grundzug in ihren geschnitzten Gesichtern, die dann auch die Inszenierung prägen, die bis ins kleinste Detail ausgefeilt ist. Selbst die Umbauten erfolgen in einer ausgetüftelten Choreografie.
Puppentheater lebt von der Kunst der Animation. Nur wenn die Figuren lebendig und sinnlich werden, kann großes Theater gelingen. Es ist einfach großartig, was da Katharina Halus, Svea Schiedung, Anastasiia Starodubova und Carina Wohlgemuth leisten und dabei die Gefühlswelt des Publikums aktivieren, zumal die Gemütslagen, von denen hier erzählt wird, auf aktuelle Empfindlichkeiten trifft.
Große Kunst. Unbedingt anschauen!
Probenbesuch (1. Hauptprobe) und Email-Interview am 04.10.2022
*Boris Vian: Der Schaum der Tage. Düsseldorf 2016