Seit dieser Spielzeit leitet Stephan Siegfried die Puppentheatersparte am Theater Koblenz. Nach seinem Studium der Puppenspielkunst an der Ernst-Busch-Schule Berlin gastierte er 2011 im Rahmen der Ensemblediplominszenierung „Morgen, Findus, wird’s was geben“ in Koblenz. Zusammen mit Myriam Rossbach war er maßgeblich an der Gründung der Koblenzer Puppentheatersparte beteiligt, die er von 2014 bis 2018 leitete, bevor er dann als Leiter nach Bautzen ging, wo er bis 2023 als Spieler und Regisseur arbeitete. Ca. 400 Vorstellungen, davon 200 auf Abstecher, spielt das Puppentheater Bautzen pro Spielzeit. Derart eingebunden in feste Strukturen, sehnte sich Siegfried nach anderen Möglichkeiten mit offeneren Strukturen. Das war ein wesentlicher Grund, das Angebot aus Koblenz anzunehmen, zumal der Spielbetrieb mit ca. 110 Vorstellungen pro Spielzeit im Puppentheater ein kreatives Ausprobieren zulässt.
Schwerpunkt: Puppentheater für ein junges Publikum
In den letzten Spielzeiten leitete ein Kollektiv das Puppentheater Koblenz mit exzellenten Inszenierungen im Erwachsenenbereich, aber nicht nur, wie z.B. Aufführungen von „Die Wörterfabrik“ oder von „Nichts“ zeigten. Stephan Siegfried setzt seinen Schwerpunkt anders. Er möchte einen „roten Faden“ im Repertoire spannen: ein Theater für alle Altersklassen, die regelmäßig bespielt werden, so dass eine feste Bindung zwischen dem Theater und dem Publikum über Jahre und Jahrzehnte entsteht. Dabei will er nicht nur für Kinder und für Erwachsene spielen, sondern auch für die schwer erreichbare Gruppe der Jugendlichen. Was ihm vorschwebt, ist eine Art Wiedererkennungseffekt mit Geschichten, die langfristig nachwirken. Deshalb gilt seine besondere Aufmerksamkeit den Märchen, die sowohl Kindern erzählt, als auch in trashigen Fassungen Erwachsenen gezeigt werden – wie gegenwärtig beim „Rotkäppchen“.
„Modellinszenierungen“
Stephan Siegfried arbeitet in seiner ersten Wieder-Koblenzer-Spielzeit mit „Modellinszenierungen.“ Das sind Stücke, die er schon einmal in Bautzen in Szene gesetzt hat. Allein schon die unterschiedlichen Bühnenmaße – 10 x 10 qm in Bautzen, 5 x 2,5 im Koblenzer Spielraum „C11“ –, lassen eine „Übernahme“ nicht zu, zu verschieden sind die Spielbedingungen in den jeweiligen Räumen. Mit dem Begriff der „Modellinszenierung“, der nicht zufällig den Modell-Begriff von Bertolt Brecht assoziieren lässt, ist gemeint, dass es einen Rahmen gibt, in dem sich nun ein neues Ensemble mit seinen eigenen Ideen und Erfahrungen entfalten und Neues entstehen kann. Dabei kann es zu partiellen Übernahmen kommen, wie an dem wunderbar gelungenen „Modell“ „Arche Nora“ zu beobachten ist: Hier wurden Bühnenkonzepte, Texte und die Musikauswahl übernommen. Der Fundus der vorhandenen Objekte wurde zusammen mit dem Ensemble in Koblenz mit neuen Gegenständen in kleinen Szenen weiterentwickelt.
Starkes Objekttheater: „Arche Nora“
Wenn das Publikum den Raum betritt, sieht es auf einem hohen Tisch einen an Müll erinnernden Haufen voll mit Gegenständen wie Perücken, Kannen, Regenschirmgestell, Toaster, Kerzenständer, Bügeleisen und vielem mehr. Hinter dem Tisch steht ein leerer Regalschrank. Auf drei Ebenen entfaltet Stephan Siegfried sein Objekttheater: Zunächst einmal tritt Dietmar Bertram auf und bestaunt diesen Berg an gebrauchten Gegenständen, das soll Puppentheater sein? Auf einfühlsame Weise macht er sich die Vorbehalte eines Erwachsenenpublikums zu eigen, für welches Puppentheater zumeist noch immer das Spiel mit Kaspar oder Marionetten heißt, das für andere Formen aber erst einmal neugierig gemacht werden muss. Und so lässt sich Bertram von seiner Mitspielerin Sophia Walther langsam in das Spiel mit den Objekten hineinziehen. Er schaut zu, wie Walther aus einem Wasserkocher und einer roten Perücke mit vielen Zöpfen das Mädchen Nora baut, und aus einer Handtasche, einer Sonnenbrille und einer blonden Lockenperücke deren Mutter. Sobald diese Figuren animiert sind, wird nicht nur die Spielbedingung formuliert – die Mutter besteht darauf, dass Nora ihr Zimmer aufräumen muss –, sondern Bertram steigt immer begeisterter in das Spiel mit ein.
Die dritte Spielebene bildet das Aufräumen. Aber wie! Da werden nicht einfach die Gegenstände in den Regalschrank geräumt, sondern sie werden erst einmal zu Objekten gebaut, animiert, kurz in Bewegung gesetzt, bevor sie weggeräumt werden. Walther und Bertram gelingt es dabei, eine tolle Magie zu entwickeln: Nicht nur Kinder sondern auch Erwachsene sind verzaubert, wenn nacheinander Tierwelten vorgeführt werden, die in der Luft, dann auf der Erde und unter einer großen Plastikfolie im Wasser sich bewegen. Ich habe die Zahl der Tiere nicht gezählt, mühelos werden sie vom begeistert mitgehenden Publikum erkannt, obschon manche Objekte aus obskuren Materialien zusammengebaut sind, wie ein Storch, mit einer Violine als Körper und langen Küchenstampfern als Beine, oder das Krokodil, montiert aus einem langen Brett und einem Toaster als Maul: Kurz, der fantasievollen Kreativität sind keine Grenzen gesetzt und zugleich wird aufgezeigt, welche Schönheit Abfallprodukten innewohnt. Zwischen Luft, Land und Wasser kontrolliert die Handtaschenmutter und Walther und Bertram nutzen die Gelegenheit, das Publikum zu fragen, welche Tiere denn da bisher zu sehen waren, so dass ein sofortiges Feedback gegeben ist. Am Ende dann, als der Spieltisch leergeräumt ist, verschwinden auch „Nora“ und „ihre Mutter“ im Regal, bevor dann das Publikum eingeladen ist, seine Lieblingstiere noch einmal in Aktion zu sehen. Im genauen Sinne des Wortes ein wunderbares Puppentheater, genauer: Objekttheater, das sich das Koblenzer Publikum nicht entgehen lassen sollte, wobei eine differenzierte Musikauswahl wie Smetanas „Die Moldau“ in den Szenen unter Wasser den Rhythmus des Spielens unterstützt.
Wie Puppe und Spieler eins werden
Ein Besuch lohnt sich, weil auch spürbar ist, wie sehr Sophia Walther und Dietmar Bertram sich in dieses Spiel hinein begeben: Sie haben es sich durch Anverwandlung zu eigen gemacht. Nicht nur dadurch, dass sie die in Bewegung gesetzten Objekte „lebendig“ machen („animieren“), sondern – was paradox klingen mag – gleichzeitig hinter ihren Objekten zurücktreten und doch als sichtbare Akteure agieren, macht den Zauber des Spiels aus. Das hat viel mit der Probenmethodik von Stephan Siegfried zu tun, der in den ersten Proben einer neuen Produktion noch keine Rollenbesetzungen festlegt, sondern nach einer Phase der Leseproben mit Begeisterung improvisieren lässt. Dazu gehört auch, dass das Ensemble die Puppen (oder Objekte) kennenlernt, untersucht, was sie können und was nicht und schließlich in „Interviews“ auch deren Geheimnissen nachforscht. Deshalb ist es wichtig, dass die Puppenbauer möglichst vor der ersten Probe ihre Aufgabe schon erfüllt haben. Auch aus diesem Grunde freut sich Siegfried, dass mit Beginn der Spielzeit 2024/25 der Puppenbauer Christof von Büren mit eigener Werkstatt das Ensemble verstärken wird.
„Nur ein Tag“
„Nur ein Tag“ von Martin Baltscheit gehört zu den meistgespielten Stücken für ein junges Publikum in den letzten Spielzeiten. Die Geschichte, wie Wildschwein und Fuchs die gerade zur Welt gekommene Eintagsfliege davon abzulenken versuchen, dass sie schon am gleichen Tag wieder sterben muss, scheint aus einer Erwachsenenperspektive geschrieben: Es geht um die Selbstverständlichkeit der Anwesenheit des Todes im Alltag. Eigentlich möchten Wildschwein und Fuchs die Begegnung mit der Eintagsfliege vermeiden, sie könnten sich in sie verlieben und dann würden sie am Abend traurig sein. Aber es kommt, wie es kommen muss. Sie verlieben sich, werden dabei traurig. Das wird bemerkt und als Ausrede inszeniert Wildschwein eine Lüge, Fuchs müsse sterben – und Fuchs lässt sich darauf ein, so dass Eintagsfliege alles möglich macht, um Fuchs einen schönen letzten Tag zu schaffen, von der Jagd im Hühnerhof, über die Heirat mit Wildschwein. Bis sich Fuchs doch noch verplappert und Eintagsfliege die Intrige durchschaut und wütend die Beiden verlässt, zumal sie die eigentliche Aufgabe ihres kurzen Daseins zu verpassen droht. Fuchs und Wildschwein, die sich auf die Suche nach ihr gemacht haben, finden sie entkräftet im Schilf, in ihren Armen stirbt sie, aber es ist keine traurige Szene. Es folgt eine weitere: Wildschwein und Fuchs warten auf das Abenteuer mit einer neuen Eintagsfliege am nächsten Tag…
Miteinander spielen und Spaß haben
Drei Wochen sind es noch zur Premiere bei meinem Probenbesuch. Das Bühnenbild lerne ich nur über Fotos kennen, eine wunderschöne in blaugrünen Tönen eingetauchte Teichlandschaft mit Schilfgruppen, die sich verschieben lassen, ein tolles atmosphärisches Ambiente, was Christof von Büren geschaffen hat. In der Mitte der Szenerie dominiert ein gefaltetes Papierschiffchen, das in Wirklichkeit aus Blech ist, mit einem Mast, der wie ein Kreuz aussieht. Auf der Probe sind es die kleinen Schränke auf Rollen – solche, die neben Krankenhausbetten stehen – die diese Schilfinseln andeuten. In meiner Fantasie verwandelten sich diese sofort, das Spiel der Animation, die abstraktes totes Material „lebendig“ macht, funktionierte. Dass dies gelingen konnte, lag auch daran, dass ich – drei Wochen vor der Premiere – einen Durchlauf (also das ganze Stück im Ablauf) beiwohnen konnte. Dieser begann etwas verhalten-müde, so dass Stephan Siegfried die Probe unterbrach mit einer kleinen Ansprache, die viel über seine Methodik verrät: Er forderte das Ensemble auf, „beieinander zu sein und Spaß zu haben“. Es geht ihm darum, dass miteinander gespielt wird, statt dass jede/jeder für sich allein bleibt. Und wie soll das Publikum Spaß haben, wenn das Ensemble keines hat und nur seinen Stiefel herunterspult?
Diese kleine Ansprache ließ im erneuten Anlauf das Ensemble explodieren. Obschon die von Christof von Büren geschaffenen Klappmaultischpuppen, die mit einem Griff am Hinterkopf geführt werden, noch nicht ihre endgültige Ausformung erfahren haben, war eine glänzende Puppenspielführung zu sehen. Insbesondere Sophia Walther, Noch-Studentin an der Ernst-Busch-Schule, die mit „Nur ein Tag“ ihr Ensemblediplom macht, glänzt als Eintagsfliege. Es gelingt ihr in Spiel und Sprache weiche Töne zu finden, deutlich zu machen, warum sich Wildschwein und Fuchs in sie verlieben. Sie spielt mit ihrer Puppe anrührend die Gefühle ihrer Figur, von der Unvertrautheit mit dieser Welt bis hin zum naseweisen Verhalten, wenn sie den Fuchs in Mathematik zu prüfen versucht, vom übereifrigen Helfersyndrom bis hin zur Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat. Hendrika de Kramer als Wildschwein und Dietmar Bertram als Fuchs sind ebenbürtige Partner, finden für ihre Figuren jeweils eigentümliche Details, die sofort die Sympathie der Zuschauer auf sich ziehen. Wenn es schon auf einer Probe so viel Spaß beim Zuschauen macht, wie wird es dann erst in drei Wochen in der Premiere sein?
Außer der Musik, hier eher aus dem Bereich des Pop kommend, die den Rhythmus für einzelne Szenen vorgibt, ist nichts aus Bautzen übernommen. Puppen, Bühnenbild und Ensemble sind eigens für Koblenz neu kreiert. Wie sich im Nachgespräch herausschält, sind für Siegfried Durchläufe ein wichtiger Teil seiner Inszenierungsarbeit. Es ist ihm wichtig, dass die „Spieler untereinander in Flow kommen“, um dann, wenn dieser Flow da ist, „detailliert inszenieren“ zu können. Er mag es nicht Proben zu unterbrechen, um seine Kritik gleich loszuwerden. Stattdessen schreibt er viele Notizen, die er dann am Ende eines Durchlaufs mit dem Ensemble bespricht. Obwohl nach eigenem Bekunden Vollblutspieler, hat Siegfried eine immer größer werdende „Lust auf Regie“. „Ich denke, wie es sein müsste, aber die Spieler fordern mich heraus.“ So entsteht ein ständiger Austausch der Ideen. Da baut sich in Koblenz eine spannende Zusammenarbeit auf, von der das junge und erwachsene Publikum nur profitieren kann.
Premiere von „Nur ein Tag“ am 9. Dezember 2023.
Aufführungsbesuch von „Arche Nora“ am 16. November 2023
Probenbesuch und Nachgespräch bei „Nur ein Tag“ am 17. November 2023
Text: Manfred Jahnke
Fotos: Arkadiusz Głębocki