„Verbrechen“ – Moral auf der Nachtseite der Gesellschaft

20. Februar 2024 · von Falk Schreiber

Ferdinand von Schirach schreibt in seinen Erzählungsbänden "Verbrechen" und Schuld" über schockierend wahre Geschichten. Regisseurin Ivana Sajević zeigt sie nun auf der Bühne. Falk Schreiber hat eine Probe besucht.

Ein braver Bürger ist gefangen in der Ehehölle, ein Geschwisterpaar verstrickt sich in gegenseitiger Abhängigkeit, drei kleine Gangster legen sich mit den falschen Leuten an: Ferdinand Von Schirach beschreibt „Verbrechen“ mit kalter Genauigkeit. Und Ivana Sajević zeigt den Stoff als angemessen drastisches Puppentheater. Ein Probenbesuch.

Das ist schon ein extrem kompetentes Gangstertrio, das da durch die Berliner Nacht stolpert: Samir, Özcan und Manólis, drei Halbstarke mit wenig sozialen Kompetenzen und noch weniger Zukunftsaussichten, denen bei einem Einbruch zufällig ein wertvolles Artefakt in die Hände fällt. Was sie, stulle, wie sie sind, nicht einmal bemerken. Und entsprechend ist es für das Publikum das reine Vergnügen, den Dreien zuzuschauen, wie sie durch eine dunkle Villa stolpern, wie sie adrenalingetrieben rumgockeln, und wie sie sich ungeschickt anstellen. Lustig. Allerdings ist Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte „Tanatas Teeschale“ gar nicht lustig. Eine Verschattung bemerkt man gleich zu Beginn, als Samir einen Jugendlichen zusammentritt – bisschen zu langes Geschäkere mit der Freundin, er oder ich, gab halt Stress, kennt man. Der Stress wird nicht weniger werden. Und die Geschichte deutet so an, dass es in den dunklen Seitenstraßen, die das Revier von Samir, Özcan und Manólis sind, überhaupt nicht lustig zugeht.

Ferdinand von Schirach, Bestsellerautor und Strafverteidiger, ist ein Moralist, seine Geschichten sind geprägt von der Trauer darüber, dass Menschen auf die schiefe Bahn geraten. Was er aber auch ist: ein Fan harter Unterhaltungsliteratur. Von Schirachs Erzählband „Verbrechen“ ist nur auf der einen Seite melancholische Betrachtung von der Nachtseite der Welt, auf der anderen Seite ist es hardboiled Pulp. Wenn es in „Tanatas Teeschale“ zur Sache geht, dann richtig. Mit Folter und Blut und Grausamkeit. Und wenn Ivana Sajević drei Episoden aus „Verbrechen“ und eine aus „Schuld“ am Theater Koblenz inszeniert, dann hat sie die nötigen Mittel, diese Grausamkeit im Detail zu zeigen. Weil Sajević den Stoff nicht als Schauspiel auf die Bühne bringt, sondern als Puppentheater. Und Puppen können im Theater mehr als Schauspieler:innen: Puppen können gefoltert werden, man kann ihre Gliedmaßen abtrennen, man kann ihnen eine Axt in den Schädel rammen. Was Sajević dann auch macht. Wenn schon, denn schon.

Der Kunstgriff der Inszenierung ist allerdings, dass Sajević das eben nicht ständig macht: Auf der Bühne splattert es, aber es splattert nicht ausschließlich. Der Einbruch von Samir, Özcan und Manólis in eine Villa am Stadtrand ist ein vergnügliches Spiel mit Verbrecherklischees, und weil die Handpuppen liebevoll und detailgenau gestaltet sind, denkt man zunächst an den Räuber Hotzenlotz, der Kasperls Großmutter die Kaffemühle klaut. Nur dass es hier nicht um Hotzenplotz und Kaffemühle geht. Und dass das, was in der Folge passiert, weniger liebevoll ist.

Nicht jede der in Koblenz gezeigten Geschichten ist so hart wie „Tanatas Teeschale“, es gibt auch ein langsam eskalierendes Ehedrama oder eine Geschwistertragödie, an deren Ende ein Mord aus Liebe steht, Geschichten, die tief in die Tragik bürgerlicher Lebensläufe eintauchen, und bei denen die Gewalt eine Ausnahme darstellt und weniger den Alltag. Aber gerade dieses Hin und Her macht den Abend spannend. Das Publikum weiß nie genau, auf was es sich einzustellen hat: Befindet es sich gerade in einer Ingmar-Bergman-Story oder in „Pulp Fiction“? Im Theatersaal macht sich Ungewissheit breit, eine Ungewissheit, die auf lange Sicht brutaler ist als ein spitzer Gegenstand, der einem Gangster ins Rektum gerammt wird.

Nicht nur inhaltlich lassen sich die Geschichten unterscheiden, auch ästhetisch: Zwar sind alle Puppen realistisch gehalten, aber sie sind von unterschiedlichen Puppenbauer*innen gefertigt, insgesamt waren Louise Nowitzki, Noura Leder, Sebastian Hennig, Thomas Klemm, Odile Pothier und Gerda Pethke hier beteiligt. Außerdem verändert sich die Bühne ständig: Florian Machner hat abstrakte Raumelemente verteilt, in denen einzelne konkrete Möbel auftauchen, ein Schreibtisch oder ein Frisörsessel etwa, so dass man mit etwas Aufmerksamkeit halbwegs sicheren Boden unter den Füßen behält. Aber auch nur halbwegs: Manchmal trägt dieser Boden nicht, dann stürzt man ab. Wie der brave Bürger, dem dämmert, dass er sich in eine unglückliche Ehe manövriert hat, und der keinen Ausweg mehr sieht, außer dem, seine Frau zu erschlagen. Gut, er hätte sich auch einfach trennen können, aber da ist der Boden schon zerborsten.

Zusammengehalten wird die Inszenierung von einer Rahmenhandlung: Ein Anwalt (aus dessen Mund natürlich von Schirach selbst spricht, auch wenn die Puppe dem Autor nicht besonders ähnlich sieht) beschreibt da seine Sicht auf die Welt, auf das Rechtssystem und auf die Kriminalliteratur, und gegen Ende (darf man das verraten? Spoiler sind im Krimi gefährlich) tappt er selbst in eine Falle. Die Gefahr lauert überall, und sogar die Figur, die eigentlich den Überblick behalten sollte, ist auch nicht sicher davor, abzustürzen. Man gönnt es diesem Anwalt ein bisschen: Von Schirach hat da jemanden beschrieben, der nicht wirklich sympathisch ist, der mit überheblicher Haltung Besserwissersotissen wie „Der Satz des Kriminalkommissars, dass eine Lösung zu einfach sei, ist eine Erfindung von Drehbuchautoren“ raushaut. Und wie der Autor seine eigene Position hier dem Verbrechen zum Fraß vorwirft, das zeigt auch, was für eine gute, vielschichtige Literatur dieser Text ist.

Der für die Bühne auch erstmal nutzbar gemacht werden will. Für die Schau- und Puppenspieler:innen ist „Verbrechen“ ein Kraftakt, Dietmar Bertram, Svea Schiedung, Anastasiia Starodubova und Tanja Linnekogel müssen ohne Unterbrechung zwischen Rollen wechseln, müssen mal eine Puppe führen und mal eine Figur darstellen, zwischendurch müssen sie in Fatsuits anziehen und hinter Masken verschwinden, sie müssen sich erwürgen lassen und den Schädel spalten, und zudem müssen sie die Bühne ständig verändern und neu arrangieren. Das, was in dieser Aufführung passiert, ist eine genau getaktete Choreografie der Bühnenkunst, und selbst wenn man mit Kriminalgeschichten wenig anfangen kann, selbst wenn man von Moralismus abgestoßen ist, und selbst wenn man sich von abgetrennten Körperteilen gar nicht begeistern lässt, dann ist dieser Abend schon alleine wegen der Perfektion dieser Choreografie ein Vergnügen.

 

Text: Falk Schreiber
Fotos: Arkadiusz Głębocki