Die Geschichte vom Dänenprinzen Hamlet glaubt jede und jeder zu kennen: Da ist einer, der seine Rache so lange hinauszögert, bis am dänischen Königshofe alle tot sind. Bis auf Horatio, der die Geschichte von Hamlet der Nachwelt überliefern soll. Aber ist Hamlet, der bei Shakespeare als tragische Gestalt zwischen mittelalterlichem Glauben und neuzeitlichem reformatorischen Denken eingepresst scheitert – und damit im 19. Jahrhundert neben Faust zum Sinnbild eines in der „vernünftelnden“ Reflexion versunkenen („deutschen“) Intellektuellen wurde -, wirklich nur einer, der als neu erwachtes Individuum scheitert?
Diese Frage könnte sich auch die 1982 in Helsinki geborene Autorin E.L. Karhu gestellt haben, die in ihren Stücken und Überschreibungen den Kampf um ein selbstbestimmtes Leben darstellt und damit zwangsläufig das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft betrachtet. In ihrer „Tragödie im Comic-Format“ – so der Untertitel des Stücks – macht Karhu den Prinzen Hamlet zu einer Prinzessin. Wenn bei Shakespeare Hamlet den Mord an seinen Vater zu sühnen hat und gegen seinen Oheim als offensichtlich Tatverdächtigen anzutreten hat, so entfällt hier das ganze Rachemotiv. Als einzige Erwachsene tritt in diesem Comic nur die Königin Gertrud auf und die hat nur ein Ziel, Prinzessin Hamlet zur Königin zu sozialisieren. Aber die will nicht, die möchte einen eigenen Weg finden und träumt davon mit ihrer Freundin und Dienerin Horatia als Falke (als Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit) durch die Lüfte zu fliegen, oder sich auf dem Felsen am Meeresufer als Fackel anzuzünden und diese marode Gesellschaft gleich mit zu verbrennen. Schwarze Asche verteilt sich am Anfang und am Ende über die Bühne, die die ganze Welt bedeutet.
Aber das sind Träume. Wie jeder gute Comic wird das Geschehen ins „Surreale“ überspitzt, wie die Dramaturgin Julia Schinke formuliert. In kurzen prägnanten Szenen wird aus der Binnenperspektive des Kopfes von Prinzessin Hamlet erzählt: Nicht das äußere Geschehen steht im Zentrum der Handlungen, sondern das, was sich die Prinzessin in ihrer Fantasie ausmalt. So wird es auch möglich, dass kurz hintereinander verschiedene Alternativen durchgespielt werden können, ohne dass Prinzessin Hamlet eine Entscheidung treffen muss. Die Regisseurin Olga Wildgruber setzt dabei einen so genialen, wie einsichtigen Trick ein: diese Binnenwelt wird nicht durch Menschen, sondern durch Puppen dargestellt. Denn, wie Wildgruber formuliert: „Die Puppen können mehr als Menschen.“ Sie repräsentieren eine „Parallelwelt“, in der „das Denken jenseits der Sprache“ gezeigt werden kann, die „Wahnvorstellungen“, aber auch, um „optisch die Ängste sichtbar zu machen“. So wird die Puppe zum „inneren Gesicht“ von Hamlet, das in starken metaphorischen Bildern sich ausdrückt, ohne es sprachlich realisieren zu können.
Diese Perspektive wird konsequent durchgehalten von Wildgruber, die Puppen spielen im ersten Akt eine entscheidende Rolle, fantasievoll werden hier die Ängste der Prinzessin groß ausgespielt. Sie erscheinen sozusagen abgespalten, weil die Puppen – zumeist von Mario Hohmann gebaute Klappmaulpuppen –, zugleich eine zum psychischen Leiden der Prinzessin distanzierende Haltung einnehmen. In diesem Punkt unterscheidet sich „Prinzessin Hamlet“ von „4.48 Psychose“ von Sarah Kane, das in der Kritik zum Vergleich gerne herangezogen wird. Zwar werden depressive Schübe, Suizidversuche und therapeutische Maßnahmen in beiden Stücken thematisch, aber letzteres unterscheidet sich als „Comic“ durch deren distanzierende Instanz und insbesondere den Puppen. Wildgruber geht dabei behutsam vor: Die Puppenspielerinnen Josephine Buchwitz, Hendrika de Kramer, Svea Schiedung und Anastasiia Starodubova bringen mit ihren Puppen die verborgenen Ängste, Fantasien und Sehnsüchte zum Vorschein, während die Darsteller und Darstellerinnen auf der Handlungsebene sich ausagieren.
Der zweite Akt spielt im Buckingham Palast zu London, es ist aber kein königlicher Palast, sondern eine Anstalt für psychisch Kranke, die mit dem ewig gleichen Chorgesang „geheilt“ werden sollen. Hier lernt Hamlet auch Ofelio kennen, der auf der Suche nach der Macht sich an jeden Strohhalm klammert. Das ist insbesondere im dritten Akt zu sehen. Hamlet hat trotz aller Therapie am Ende des zweiten Aktes Suizid begangen: Nunmehr schmeißt sich Ofelio an Horatia, die von Königin Gertrud mehr und mehr zur Prinzessin Hamlet aufgebaut wird. Halb freiwillig, halb gezwungen fügt sich Horatia in deren Rolle der Hamlet ein – und endet in Wahnvorstellungen, während Ofelio nun in einem engen Käfig triumphierend über allen residiert. Auch Horatia scheitert und damit führt Karhu vor, wie die Dramaturgin Schinke betont, es nicht das Individuum ist, das scheitert, sondern das System selbst die Menschen mit ihren anderen Lebensentwürfen und Sehnsüchten zerstört.
Weil Prinzessin Hamlet nur noch als tote Puppe auf dem Podest liegt, braucht es keine andere Puppen mehr, denn mit dem Tod ist auch die Binnenperspektive, die Puppenspielebene entschwunden. Stattdessen herrscht nun die „Realpolitik des Systems“ vor, die sich in Königin Gertrud verkörpert: Sie besteht auf Formalitäten und achtet wenig auf die Rechte des einzelnen Menschen. In dieser Konsequenz wirkt sie tragisch, und Kammerschauspielerin Tatjana Hölbing, die nach langer Zeit wieder vor dem Koblenzer Publikum auftritt, spielt das groß aus, ohne expressiv werden zu müssen. Jana Gwosdek als Prinzessin, Dorothee Lochner als Horatia sowie Svea Schiedung als Orfelio führen ihre Verletzungen, Träume, Ängste und Sehnsüchte bedrängend vor, dabei durch die Eigendynamik der Puppen so verfremdet, dass man in deren Mechanismen als Zuschauer:in tiefe Einblicke bekommt. Das Ensemble vervollständigt Isabel Mascarenhas als kleiner Bruder, dem das Essen wichtiger ist als das, was um ihn herum passiert.
Eine rein weibliche Besetzung? Eine Regisseurin? Eine Dramaturgin? Also doch ein „feminines“ Stück, wie es auch der Theaterverlag Rowohlt schreibt: „eine feministische Überschreibung des Hamlet“? Das ist zu kurz gegriffen: Wildgruber hebt die Handlung auf in der übergreifenden Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft – und die trifft jenseits alles Genderns jeden. Und es stimmt auch so nicht: Franz Gronemeyer hat ein schräg im Bühnenraum aufgestelltes, dreiteiliges ansteigendes Podest geschaffen, dessen Zwischenräume wie Puppenspielleisten wirken und überraschende Auftritte zulassen: ein abstrakter Raum, der ganz auf das Doppelspiel von Menschen und Puppen konzentriert, mit Projektionen, die die Träume von Prinzessin Hamlet und Horatia visualisieren.
Diese Gedanken wurden aufgeschrieben nach einem Besuch der ersten Hauptprobe am 03.06.2022 und einem Gespräch mit Olga Wildgruber und Julia Schinke am 04.06.2022
Text: Manfred Jahnke
Fotos: Arek Głębocki