Wenn man sich an die Regeln hält

18. März 2024 · von Manfred Jahnke

Beobachtungen zu „7 Geißlein“

„Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ erscheint innerhalb der Sammlung der Brüder Grimm außergewöhnlich. Bekamen viele der Märchen mit der Verwandlung einer Sammlung von Altertümern zu Unterhaltung für Kinder (mit kräftiger Mithilfe von Ludwig Grimm) eine Moral verpasst, so erscheint dies bei „Der Wolf und die sieben Geißlein“ ein schwieriges Unterfangen: Halten sich doch die jungen Ziegen an die Gebote der Mutter – und werden am Ende vom Wolf verschlungen! Was ist da falsch gelaufen?

Schon mit „Rotkäppchen“ hat Stephan Siegfried das junge und das alte Publikum in Koblenz verzaubert. Die Premiere von „7 Geißlein“ wird die 94. Aufführung sein. Er hat diese Inszenierung von Sarah John aus Bautzen mitgebracht. Aber mit der 94. verändert sich diese entscheidend: Was für einen großen, hohen Raum geschaffen wurde, muss auf den kleinen Raum der Probebühne 2 neu ausgelegt werden. Siegfried gerät dabei ins Schwärmen: Nicht nur, dass die Puppen von Beatrice Baumann nun dem Publikum viel näher sind und in ihren Details viel genauer betrachtet werden können, auch durch eine andere Lichttechnik kann Tiefe und die Plastizität der Puppen und des Raums besser ausgelotet werden.

In den „Gesammelten Märchen“ nimmt „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ gerade einmal anderthalb Druckseiten ein. Für eine Aufführung – selbst, wenn alle Vorgänge des Märchens ausgespielt werden – ein bisschen kurz. Siegfried ist aber jemand, der vor Einfällen übersprudelt, seine Ideen bleiben assoziativ im Rahmen der Vorlagen. Wo ein Wolf auftaucht, ist der Wald nicht weit. Wo man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, da braucht es den Jäger Herbert, der mit seinen (am Ende: zehn) Regeln den Besuch des Waldes für sein Publikum zu einem Erlebnis machen möchte: Vom Verbot des Besteigens von Hochsitzen, über das Gebot, die Wege nicht zu verlassen, oder die unbedingte Vermeidung von Müll. 

Was so formuliert moralinsauer klingt, ist beim Zuschauen ein großer Spaß. Mit Gespür für anarchische und komische Situationen erzählt und spielt Siegfried seine Geschichte(n). Dabei geht der soziale Hintergrund nicht verloren: Er berichtet von einer alleinerziehenden Mutter mit sieben Kindern. Zumindest einer der Väter, ein Steinbock, wurde vom Wolf gefressen. Wenn die Mutter, weil die Speisekammer leer ist, doch einmal trotz der großen Gefahr das Haus verlässt, muss der älteste Sohn „Nummer Eins“, Heinrich, die Verantwortung über die wilde Horde übernehmen. Auch da gelten strenge Regeln: Wenn wer anklopft, dann muss die Stimme überprüft werden. Die Stimme des Wolfs ist rau, er kann nicht die Mutter sein. Als er beim Krämer Kreide und Stimmübungen erwirbt, kann er sogar mit hoher Stimme eine Arie singen.

Wenn er wieder anklopft, muss er die Pfote vorzeigen: die ist nicht weiß wie bei der Mutter. Erneut hastet der Wolf zum Krämer und kommt ein drittes Mal, nun mit hoher Stimme und weißer Pfote. Was tun? Die Regeln, die die Mutter aufgegeben hat, sind erfüllt. Gegen den Protest des Jüngsten, Benjamin, der noch eine Sicherheitsfrage einführt, öffnet Nummer Eins die Tür. Die Folgen sind bekannt und auch die Folgen für den Wolf. Irgendetwas stimmt mit diesen Regeln nicht. Sie müssen ständig überprüft werden. Ein Mitdenken ist angesagt. Selbst der Jäger muss ab und an von seinen Regeln abweichen. Wenn eine trampelnde, grunzende und quiekende Wildschweinrotte hinten einem her ist, dann darf man auf einen Hochsitz sich retten… Regeln sind nicht starr handhabbar, sondern müssen reflektiert angewandt werden.

Beatrice Baumann hat wunderschöne Tischfiguren geschaffen, mit einem genauen Blick für Details, jede Geiß hat einen individuellen Charakter – im Figurenbau und im Spiel von Siegfried. Der Krämer und das Rotkäppchen sind ebenfalls Tischpuppen, die sich in ihrer Machart von den Geißlein unterscheiden. Der Wolf ist eine große Klappmaulpuppe, die Sigrid Schöneberg geschaffen hat, die per Illusion die sechs Geißlein fressen kann und davon einen dicken Bauch bekommt. Das Bühnenbild besteht aus drei Gestellen, die, wenn sie verschoben werden, neue Räume schaffen, verbunden werden sie durch Taschen. Ein großer Korb dient als Brunnen, in dem am Ende der Wolf versenkt wird. Wenn denn die Verwandlung des Raumes – insbesondere von der Geißlein-Wohnung zum Krämerladen – Zeit beansprucht, dann animiert Siegfried das Publikum zum Mitspielen, das sich beispielsweise als Wildschweinrotte akustisch bemerkbar macht. Kurz, Stephan Siegfried steckt mit seiner anarchischen Spielfreude an, arbeitet mit vielen überraschenden Wendungen und zeigt vor allem eines: er liebt sein Publikum. 

Diese Eindrücke entstanden bei einer Probe am 14. März 2024 mit anschließendem Gespräch mit Stephan Siegfried.

KINDER BRAUCHEN MÄRCHEN (Bruno Bettelheim) ODER?

 Ein Kurzinterview mit dem Regisseur und Puppenspieler Stephan Siegfried

Kinder brauchen Märchen weil…
…sie Geschichten brauchen, um die Welt zu begreifen. Märchen sind zeitlose Geschichten, deren Motive auch nach über 200 Jahren nicht an Aktualität verloren haben.

Erwachsene brauchen Märchen, weil…
…sie nichts Anderes als große Kinder sind. Werden komplexe Alltagsprobleme in unterhaltsamen 45 Minuten auf das Wesentliche heruntergebrochen, kann das durchaus von Stress befreien.

Ich als Theatermacher brauche Märchen, weil…
…sie mir ein eigenes Universum von spannenden Figuren und Geschichten bieten, die ich neu miteinander verknüpfen, auseinandernehmen und neu interpretieren kann.

Kinder brauchen 7 Geißlein, weil…
…sie mit diesem Märchen das selbständige Denken für sich entdecken können, nebst einer Menge Spaß versteht sich.

Text: Kulturjournalist  Manfred Jahnke
Fotos: Arek Głębocki