Die Gewalt in der Gesellschaft

08. Oktober 2022 · von Falk Schreiber

Max liebt Agathe. Aber um sie heiraten zu dürfen, muss er erst einmal seine Fähigkeiten als Schütze beweisen. Problem: Der Jägerbursche hat schon lange nichts mehr getroffen. Weswegen er einen Deal mit der dunklen Seite eingeht… Regisseur Jan Eßinger und der Chefdirigent Marcus Merkel erzählen Carl Maria von Webers als unterhaltsame Schauergeschichte mit tiefenpsychologischer Grundierung.

Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ ist eines der erfolgreichsten Stücke auf den deutschen Opernbühnen. Jan Eßinger, wie wird die Aufführung in Koblenz aussehen?

Jan Eßinger: Für uns als Team war sehr schnell klar, dass „Der Freischütz“ in erster Linie ein Stück über Ängste ist. Gleich am Anfang hat Max als Jägerbursche, der nicht mehr trifft, große Versagensängste, gleichzeitig steht auch Kaspar unter Druck, bis Mitternacht Samiel ein Opfer bringen zu müssen. Es geht hier um verschiedene Männerbilder. Gleichzeitig geht es im größeren Sinne um die Urängste des Menschen, um das Unterbewusste, um die Traumata in dieser Dorfgesellschaft, die durch einen Krieg hervorgerufen wurden. Das Ganze spielt ja im zeitlichen Kontext des Dreißigjährigen Krieges, und ohne, dass wir das historisch korrekt in dieser Kriegszeit ansiedeln, war uns doch sehr wichtig, dass wir das, was solch ein Krieg auslöst bei den Menschen, auch auf der Bühne zeigen. Man wird den Chor als eine haltlose Gesellschaft erleben, als verrohte Gesellschaft, die ihre Humanität ein Stück weit verloren hat. Eine der ersten Fragen, die sich beim „Freischütz“ stellt, ist die nach der Wolfsschlucht. Es gibt da die angesprochene Teufelsfigur Samiel: Wer oder was ist dieser Samiel? Für uns ist das Böse nicht ein kleines, rotes Männchen, das zwischen den Kulissen rumhüpft. Das Böse steckt letzten Endes in dieser Gesellschaft, in ihren Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Schrecken des Menschen sind also die Menschen selbst.

Tobias Haaks singt und spielt Max

Einerseits leuchtet es ein, Samiel direkt in die Gesellschaft zu integrieren. Aber in Webers Vorlage ist er im Gegenteil explizit ausgeschlossen: Er hat eine Sprechrolle, mit der Musik hat er nichts zu tun.

Marcus Merkel: Für mich funktioniert das sogar besser, als wenn wir nur eine Figur hätten, die auf der Bühne spricht – die meisten Schauspieler, die als Samiel besetzt werden, sagen auch zu Recht, dass Sie Angst vor dieser Rolle haben. Wir haben das deutlich anders, aber sehr schön gelöst.

Eßinger: Samiel ist das gruselige Element in der Musik und als das Böse in der Dorfgesellschaft integriert. Zu einer solchen Gesellschaft gehören die Alten und Jungen – und deswegen gibt es bei uns auch Kinder auf der Bühne. Diese Kinder verkörpern, wo es mit dieser Gesellschaft hingeht, worin deren Zukunft liegt. Und Kinder werden auch in Bezug auf die Samiel-Figur eine entscheidende Rolle spielen …

„Der Freischütz“ war die erste Oper, die ich jemals auf einer Bühne gesehen habe, irgendwann in den Achtzigern an einem kleinen Stadttheater in Süddeutschland. Das war damals eine Skandalinszenierung, es gab mehrere Nacktszenen, das Bühnenbild der Wolfsschlucht bestand aus zwei Frauenschenkeln, und die Figuren kamen zwischen diesen Schenkel hervor. Mich hat das natürlich fasziniert, obwohl das wohl gar keine besonders gute Inszenierung war. Aber: Man hat damals gesehen, dass dieser Stoff inhaltlich ein bisschen mehr bietet als nur eine Gespenstergeschichte.

Eßinger: Das ist die große Herausforderung und die große Freiheit, die man bei diesem Stoff hat. Zuallererst ist es eben eine sehr gute Gruselgeschichte, mehr wollte das ursprünglich auch gar nicht sein. Die Vorlage von Johann August Apel war 19.-Jahrhundert-Unterhaltungsliteratur, kein Schundroman: Die Leute haben sich gerne gegruselt. Und deswegen sagen wir auch zuallererst: Wir vertrauen auf den Grusel, wir wollen das Dunkle! Und dann muss man nicht sagen: „Ach, das ist so 19. Jahrhundert!“ – diese Urängste stecken auch in uns heute. Natürlich muss man inzwischen, um zu Heiraten keinen Probeschuss mehr abgeben, aber auch als Mensch im 21. Jahrhundert kennt man Drucksituationen und sucht sich Rituale, um mit diesen Drucksituationen umzugehen. Wir haben hier also absolut heutige Themen, nicht nur eine verrückte Gruselgeschichte, in der ein paar Leute Angst vor dem Teufel haben – und trotzdem funktioniert das auch unter dem Aspekt der Unterhaltung! Besonders sieht und hört man das dann in der Wolfsschlucht, die für mich der Rockkonzert-Moment im Zentrum der Oper ist!

Backstage-Impressionen

Wie sieht das mit der Musik aus?

Merkel: Das ist wahrscheinlich der Reiz an diesem Stoff: Zum einen holt einen diese Komposition direkt ab, aber dann steckt da trotzdem mehr dahinter, und das spürt man auch. Carl Maria von Weber ist natürlich ein Kind seiner Zeit, der kommt von Haydn und Beethoven, und er lehnt sich dabei ein bisschen aus dem Fenster mit seiner starken Programmmusik. Gerade in der Wolfsschlucht fällt das auf, in den Posauneneinsätzen erklingt etwas Übermächtiges und Übergroßes. Übrigens haben wir hier im Theater Koblenz die Möglichkeit für Romantische Posaunen, so etwas hört man nicht immer: Die historischen Instrumente können Vollgas geben, sie sind dabei nie zu laut, aber sie hauen an den richtigen Stellen ordentlich rein. Und Weber zieht das volle Register, der nimmt alles mit. Er schreibt wirklich gute Musik und andererseits echte Singspiel-Nummern, wie wir sie von Mozart oder den Anfangsnummern des „Fidelio“ kennen. Wie raffiniert der Harmlosigkeit erzeugt, und dann wieder Dunkelheit! Es gibt da dieses Volkslied von den Brautjungfern, und das unterlegt er im Nachspiel mit einem abgründigen Grusel, indem er die Bratschen einen Störfaktor spielen lässt, so ein kleines Tremolo! Wenn man das vom Orchester hört, gefriert einem das Blut!

Eßinger: Es gibt auch den Jägerchor, der schon bei Loriot lustig über die Bühne marschiert ist. Ein vermeintlich heiteres Herrengesangsvereinslied. Aber das, was da gesungen wird, die Melodie des Mittelteiles, ist ursprünglich ein französisches Kriegslied. Da liegt also eine ganz andere Aggression drunter, wie so oft entsteht bei Weber eine Reibung unter der pseudo-heilen musikalischen Oberfläche – und das ist dann natürlich auch theatralisch spannend!

In der Szene, als Max das erste Mal in die Wolfsschlucht geht, ist er verwirrt, er verspätet sich, er hat Visionen. Steht der da eigentlich unter Drogen?

Eßinger: Tatsächlich war das unser Subtext, besonders in der Szene, als Max von Kaspar zusätzliche Freikugeln erbittet, weil er seine ersten schon verschossen hat. Da fleht er richtig: „Kaspar, gib mir noch eine Kugel, ich brauche noch eine, nur eine!“ Und Kaspar ist quasi der Dealer: „Vier Kugeln für dich, drei für mich, kann ein Bruder redlicher teilen?“ Ich lebe in Berlin: In gewissen Parks läuft das genauso ab.

Sie haben das vorhin schon angedeutet: Man kann dieses Stück auch mit Freud lesen, da geht es nicht zuletzt um Sexualität. Ich persönlich finde allerdings die Frauenfiguren verhältnismäßig uninteressant.

Merkel: Ich glaube, das Gefühl hatte die Darstellerin von Ännchen bei der Uraufführung auch, deswegen musste Weber ihr dann noch eine zweite Arie schreiben. Tatsächlich ist Agathe die einzige, die nach dem Vorbild der klassischen Zeit eine große mehrteilige Arie hat, womit Weber dieser Frauenfigur eindeutig große Bedeutung beimisst.

Eßinger: Die Frauen haben ihre Funktion in Bezug auf die Männer, obwohl das Stück in einer Frühphase auch mal „Die Jägerbraut“ hieß, wobei es auch da eben nicht um „die Frau an sich“ ging, sondern nur um „die Frau von“. Ganz interessant ist aber Ännchen – einerseits ist das typisch, eine Freundin oder Ammen-Figur, die im Verhältnis zur weiblichen Hauptfigur steht. Und die hat halt zwei heitere Arien. Aber wenn man sich wirklich mal die Frage stellt, wer Ännchen eigentlich ist, wie sie in diesem Dorf lebt, dann erkennt man sehr schnell: Mensch, die ist ziemlich alleine! Ännchen hat eigentlich niemanden außer Agathe, und Agathe heiratet jetzt Max! Und plötzlich ist diese Hochzeit für Ännchen nicht nur etwas Positives, sie ist dabei, ihre einzige Bezugsperson im Dorf zu verlieren. Nur ist sie so ein Typ, der nach außen immer sagt: „Ach, wenn das Leben mir Zitronen gibt, dann mache ich Limonade daraus!“ Also verlacht sie ihren eigenen Schmerz und singt eine witzige Arie. Diese bekommt dann aber plötzlich bei uns noch eine weitere Dimension, wenn man den Kampf der Figur mit sich selbst dabei erlebt.

Das Ensemble bei der Nachbesprechung einer Probe

„Der Freischütz“ wurde ja mal als „deutsche Nationaloper“ gelabelt, auch in Abgrenzung zur französischen und italienischen Oper. Gibt es da politische Fallstricke, wenn man das heute auf die Bühne bringt?

Merkel: Natürlich besteht die Gefahr, dass das missbraucht wird. Aber diese gewisse Deutschtümelei finde ich im Stück eigentlich nicht, Weber erzählt davon überhaupt nicht. Diese Geschichte könnte in jedem Dorf stattfinden, in dem Fall sind wir halt kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg in Böhmen.

Eßinger: Dieser Begriff der Nationaloper wurde ja erst später geprägt. Zur Entstehungszeit des Stücks, 1821, gab es Deutschland als Nationalstaat noch gar nicht, das Ganze wurde dann später instrumentalisiert. Historisch kann man nachvollziehen, in welchem Kontext das entstanden ist, in manchen Inszenierungen wurde das dann auch aufgegriffen, da wurde dann Samiel zum Nazi oder so. Wir waren wir uns aber sehr schnell einig, dass solch eine Konkretheit unseren Koblenzer Freischütz verengen würde, wir wollen das Böse nicht delegieren: Uns geht es grundsätzlich darum, welche Gewaltpotentiale in einer Gesellschaft stecken!

Interview: Falk Schreiber