Die Konzeptionsprobe ist immer ein ganz besonderer Moment bei einer Theaterproduktion: Sie markiert nicht nur den Beginn der szenischen Proben, sondern dient dem Regieteam gleichzeitig dazu, den Mitwirkenden ihr Inszenierungskonzept vorzustellen. Musikalische Proben haben bei Opern-Produktionen bereits vor diesem Termin stattgefunden, sodass sowohl Solist:innen als auch Chor mit der Musik vertraut sind und ihre Partien kennen. Im Falle der Oper „Madama Butterfly“, die am 19. Mai ihre Konzeptionsprobe hatte, fanden über die gesamte Spielzeit verteilt bereits musikalische Proben für die Sänger:innen statt, sodass sich diese in den kommenden sechs Wochen vorrangig auf die szenische Erarbeitung des Stücks konzentrieren können.
Eine der beliebtesten Opern der Welt in Koblenz
Von szenischen Vorgängen oder dem Regiekonzept der Produktion wissen die Sänger:innen während der Einstudierung ihrer Rollen noch nichts. Entsprechend groß ist die Aufregung vor einer Konzeptionsprobe. Wie wird das Bühnenbild aussehen? Was für ein Kostüm werde ich tragen? Gibt es eine besondere Regiesetzung? All das sind Fragen, die den Beteiligten kurz vor Beginn durch den Kopf gehen – insbesondere bei einem Stück wie „Madama Butterfly“, das zu den beliebtesten und meistinszenierten Werken des Opernrepertoires zählt.
Giacomo Puccinis „Tragedia giapponese“, wie die offizielle Gattungsbezeichnung der Oper lautet, wurde 1904 in Mailand uraufgeführt. Während die erste Fassung durchfiel, gelang der zweiten im gleichen Jahr erstmals gespielten Fassung rasch ein internationaler Siegeszug, der zu zahllosen Produktionen – mit den unterschiedlichsten Regiekonzepten – an Opernhäusern weltweit führte. Nicht wenige dieser Konzepte setzen sich bewusst kritisch mit den problematischen Aspekten des Werks, wie der Japandarstellung oder dem Frauenbild, auseinander.
Vier Perspektiven auf „Madama Butterfly“
Doch wie sieht es bei der Koblenzer Produktion aus, die ab 5. Juli auf der Festung Ehrenbreitstein zu sehen sein wird? „Bei uns gibt es nicht nur eine einzelne Regieidee“, verkündet Regisseur Markus Dietze gleich zu Beginn der Konzeptionsprobe. „Das würde nur zu einer Verengung der Perspektive führen.“ Stattdessen hat es sich Dietze zum Ziel gesetzt, vier verschiedene Perspektiven auf die Oper freizulegen, aus denen man das Stück (durchaus auch gleichzeitig) betrachten kann.
Für die Beteiligten hat Dietze diese vier Perspektiven bei der Konzeptionsprobe äußerst anschaulich visualisiert: Auf mehreren Stellwänden bekommen die Mitwirkenden bunte Karteikarten mit verschiedenen Schlagworten und Deutungsansätzen zu Dietzes vier Perspektiven auf die Oper präsentiert. Eine dieser Perspektiven ist eine koloniale Lesart des Stücks. Immerhin handelt „Madama Butterfly“ vom amerikanischen Marineleutnant Pinkerton, der in Japan die junge Cio-Cio-San heiratet, die Ehe jedoch nicht ernst nimmt und schließlich ohne seine Angetraute nach Amerika zurückkehrt.
Für Pinkerton ist Japan lediglich eine Spielwiese, sodass er sich – wie auf einer von Dietzes Karten zu lesen ist – aufgrund eines kolonialen Machtgefühls seiner Verantwortung entzieht, wobei die emotionale Ausbeutung der lokalen Bevölkerung durch die koloniale Ordnung regelrecht legitimiert wird. Besonders deutlich wird dies im dritten Akt der Oper, wenn Pinkerton, nachdem er Cio-Cio-San verlassen hatte, mit seiner amerikanischen Frau Kate nach Japan zurückkommt. Seine westliche Ehe hat die lokale Verbindung mit Cio-Cio-San ersetzt, ohne dass der Amerikaner deswegen Konsequenzen zu befürchten hätte.
Zwischen interkultureller und feministischer Lesart
„Interkulturalität ist das zentrale Thema der Oper“, betont Dietze bei der Vorstellung des Konzepts. „Gleichzeitig besteht natürlich die latente Gefahr der permanenten Reproduktion von rassistischen, kolonialistischen und sexistischen Themen.“ Genau dem möchte der Regisseur durch die differenzierten Perspektiven auf die Oper entgegenwirken. So gibt es neben der interkulturellen Lesart auch eine feministische Perspektive auf das Stück. Schließlich wird innerhalb der Handlung mit Cio-Cio-San eine junge, weibliche, wirtschaftlich abhängige Japanerin ausgebeutet, die am unteren Ende gleich mehrerer Machtachsen steht.
„In feministischer Perspektive lässt sich Cio-Cio-Sans Weg als Tragödie einer Frau lesen, die versucht, über Liebe vom Objekt zum Subjekt zu werden und daran zerbricht“, erläutert Dietze. „Ihr Suizid am Ende der Oper ist kein bloßes Opfer, sondern auch ein radikaler Akt der Autonomie: Sie wählt den Tod über die Rückkehr in die Bedeutungslosigkeit.“ Cio-Cio-Sans Weg kann entsprechend – und das bildet Dietzes dritte Perspektive auf die Oper – als moderner Emanzipationsversuch gelesen werden. So stellen ihre Heirat mit einem Amerikaner und das andere Leben, das sie sich dadurch erhofft, einen dezidierten Versuch dar, durch die westliche Moderne Autonomie zu erlangen.
Pinkerton schließlich lässt sich, wie sich etwa an seinem herablassenden Verhalten gegenüber der japanischen Kultur zeigt, als „Emotional Abuser“ lesen, was die vierte Perspektive auf die Oper darstellt, die Dietze bei der Konzeptionsprobe aufmacht. „Neben diesen vier Perspektiven gibt es auch die Möglichkeit einer psychologischen Innenperspektive“, führt Dietze aus und betont gleichzeitig, dass es sich bei seinem Konzept und den verschiedenen Perspektiven auf „Madama Butterfly“ keinesfalls um eine starre Regievorgabe handelt, die genauso gespielt werden müsse. Vielmehr bildet das Konzept ein Denkmodell und ein „intellektuelles Auffangnetz“, wie Dietze es formuliert, das dem Ensemble und der Regie einen stimmigen Zugang zu Puccinis Oper ermöglichen soll.
Origami und Wassercontainer
Selbstverständlich kam bei der Konzeptionsprobe nicht nur Regisseur Markus Dietze zu Wort. Auch Ausstatter Christian Binz stellt den gespannt lauschenden Mitwirkenden sein Konzept für Bühne und Kostüme vor. Anhand von Grundrissen und Zeichnungen präsentiert er zunächst sein Raumkonzept, das aufgrund der begrenzten Möglichkeiten auf der Festung Ehrenbreitstein recht reduziert ist. „Wir haben eine Spielfläche auf der Bühne und eine Rückwand aus Industrie-Wassercontainern“, erklärt Binz. „Das Ganze wird wie ein Schwimmponton werden, das sich im Nichts bewegt.“
Im Bereich der Kostüme, die den Mitwirkenden mittels Figurinen (Zeichnungen der Figuren im Kostüm) vorgestellt werden, hat sich Binz bewusst dagegen entschieden, stereotype Kimonos auf die Bühne zu bringen. Dennoch wird der „Clash der Kulturen“, der ja ein zentrales Element der Oper ist, in den Kostümen widergespielt. Einerseits gibt es, so Binz, eine strenge Farbdramaturgie. Die Amerikaner tragen beispielsweise durchweg grau-blaue Kostüme, um sich hierdurch von der lokalen Bevölkerung abzugrenzen. Gleichzeitig wird bei den japanischen Figuren ein naiver, überzeichneter (westlicher) Blick auf die japanische Kultur geworfen. Dabei tragen insbesondere Cio-Cio-Sans Hochzeitsgäste, also ihre Familie, Kostüme, die farbenfroh und mit Origami-inspirierten Mustern ausgestaltet sind.
Die erste szenische Probe
Nach einer kurzen Pause, in der sich die Mitwirkenden Kostümentwürfe, Bühnenpläne und natürlich Dietzes konzeptionelle Zugänge zur Oper an den Stellwänden in Ruhe anschauen konnten, setzt Dietze die Probe in kleinerem Kreis fort und widmet sich den organisatorischen Aspekten der Produktion. So erklärt der Regisseur beispielsweise, dass er sich bei „Madama Butterfly“ gegen ein chronologisches Vorgehen bei den Proben entschieden hat und stattdessen mit den großen Nummern der Oper starten wird. So soll gewährleistet werden, dass man im Probenprozess die zentralen Themen des Werks nicht aus dem Blick verliert. Hieran zeigt sich, dass zum Regieführen deutlich mehr gehört, als sich ein Konzept auszudenken und den Darstellenden zu sagen, was sie machen sollen. Auch die Art und Weise, wie und in welcher Reihenfolge geprobt wird, hat direkten Einfluss auf das Endergebnis einer Produktion und muss folglich mitbedacht werden.
Das für „Madama Butterfly“ angedachte ungewöhnliche Vorgehen beim Proben setzt Dietze im letzten Teil der Konzeptionsprobe direkt in die Tat um: Hier beginnt der Regisseur bei seiner ersten szenischen Probe nicht etwa mit dem Anfang der Oper, sondern mit dem Duett von Cio-Cio-San und Pinkerton am Ende des ersten Aktes, einer der dramaturgisch wie musikalisch wichtigsten Momente des Stücks. Zunächst frischen die Sänger:innen bei dieser Probe jedoch erst einmal die Musik auf und widmen sich erst anschließend zusammen mit Dietze abschnittsweise der Erarbeitung des Duetts.
Es ist dabei keinesfalls so, dass Dietze die Bewegungen der Darstellenden minutiös vorgeplant hat. Vielmehr gibt er Anregungen, diskutiert mit den Solist:innen über ihre Figuren und deren Intentionen und erarbeitet gemeinsam mit diesen die Szene. Eine besondere Herausforderung bilden die drei Doppelbesetzungen, die an der Koblenzer Produktion der Oper beteiligt sind. Dietze muss mit je zwei Cio-Cio-Sans (Heather Engebretson/Hanxi Yang), zwei Pinkertons (Martin Shalita/Matthew Vickers) und zwei Suzukis (Sayaka Shigeshima/Haruna Yamazaki) proben, wobei jede:r Darstellende seine:ihre Figur anders interpretiert. Folglich unterscheiden sich natürlich auch die Inszenierungen bei den verschiedenen Besetzungen.
Nach dreieinhalb intensiven Stunden mit Konzeptvorstellung, gemeinsamen Diskussionen und ersten szenischen Annäherungen an die Oper endet die Konzeptionsprobe. Die Darsteller:innen und das gesamte Team haben nun eine konkrete Vorstellung vom Konzept der Koblenzer „Madama Butterfly“-Produktion, das sich in den sechs Probenwochen bis zur Premiere allerdings sicherlich noch verändern und weiterentwickeln wird. Über den Fortschritt der Proben wird in einigen Wochen auch hier im Blog berichtet. Das Endergebnis kann dann ab 5. Juli auf der Festung Ehrenbreitstein bewundert werden.
Text: Patrick Mertens
Fotos: Arek Głębocki