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Alles Leben ist nur für einen Augenblick

04. Mai 2022 · von Manfred Jahnke

In diesem Artikel geht's um spannende Hintergrundinformationen und Probeneindrücke zu unserer Erfolgsproduktion des Broadway-Hits "Avenue Q". Manfred Jahnke war bei den Proben dabei und schildert seine Erlebnisse.

Wer in der AVENUE A wohnt, der muss etabliert und reich sein. Wer sich hingegen eine Wohnung in der AVENUE Q leisten kann, der gehört eher zum sozialen Rand der Gesellschaft, wenn nicht gleich ganz zu den Losern. In ihrem gleichgetitelten Musical erzählen Robert Lopez und Jeff Marx nach dem Buch von Jeff Whitty von einem ganzen Häuserblock, den Christian Binz auf die Bühne stemmt: Ein wunderbar vergammelter Straßenzug, voller Graffiti; zerbröselndes Grau mit Löchern in und an den Mauern. Auch die Straße davor ist grau. Auch ansonsten wirkt dieser Ort unwirtlich. Ein Müllcontainer dominiert das Bild auf der rechten Seite, davor Müll und gelbe Säcke, auf der linken Seite stehen zwei hässliche Plastikstühle: Gemütlich ist es in der AVENUE Q nicht, auch wenn Kinderzeichnungen per Video eine fröhliche Stimmung assoziieren oder Kulissenteile wie ein rotes Sportauto oder das Empire State Building aus einem Bilderbuch ausgeschnitten erscheinen und auf eine naive Fröhlichkeit verweisen…

Sinnsucher

Wie in vielen Stücken wird auch hier die Ankunft eines Menschen als Möglichkeit genutzt, eine Gesellschaft in ihrer Vielfältigkeit vorzuführen. Hier ist es Princeton, der gerade seine akademische Abschlussprüfung bestanden hat, aber keinen Job findet und auf der Suche nach seiner Bestimmung im Leben ist. Er trifft auf den Musicaldarsteller Adrian B., der seine Musicalkarriere in Deutschland hinter sich gelassen hat, weil er per Erbe zum Hausbesitzer in New York geworden ist, sich aber dagegen verwahrt, Hausmeister genannt zu werden. Oder auf den Anlagenberater Rod, der sich ständig mit seinem Untermieter Nicky streitet und sich nicht eingestehen will, dass er homosexuell veranlagt ist. Oder auf Brian, den arbeitslosen Komiker, der mit Christmas Eve liiert ist, einer aus Japan eingewanderten Therapeutin ohne Patienten. Und auf die Kindergärtnerin Kate, die eine Monsterschule gründen möchte und auf der Suche nach einem Mann ist. Princeton aber – immer noch auf der Suche nach einem Sinn – lässt sich auf die sexy Lucy ein, die allerdings von einem Centstück erschlagen wird, das Kate vom Empire Building aus Wut, dass Princeton sie bei einer Verabredung sitzen gelassen hat, heruntergeschleudert hat.

In diesem Musical, das 2003 uraufgeführt wurde, kreuzen sich diverse Biografien, wechseln sich Liebes- und Trennungsgeschichten in rascher Abfolge ab, oder werden sozialer Auf- und Abstieg, Künstlerarmut, Gentrifizierung von Stadtvierteln, Rassismusvorwürfe oder unterdrückte Homosexualität, die sich dann outet, thematisiert – kurz: Da wird auf unterhaltsamste Art und Weise ein bunter Strauß an Themen zusammengebunden, die auch 2022 noch aktuell sind. Und eine lebensphilosophische Ausrichtung verdeutlicht, die – wie die folgende Zeile aus dem Schlusssong des Musicals verdeutlicht – zutiefst in amerikanischer Tradition verwurzelt ist: „Alles Leben ist nur- / für einen Moment“. Vielleicht erinnern sich manche noch an „Unsere kleine Stadt“ von Thornton Wilder, wo die Biografien von Menschen einer Kleinstadt erzählt werden, kulminierend in der Einsicht, dass das Leben nur im Augenblick existiert.

Puppen-Menschen stellen Menschen dar

Der besondere Dreh in AVENUE Q ist, dass hier drei Rollen, Christmas Eve, Brian und die Kunstfigur Adrian B. reine Menschendarstellung sind, die anderen Rollen aber von Puppen, genauer: von Klappmaulpuppen, gespielt werden, die seit der „Sesamstraße“ oder der „Muppetshow“ immer beliebter werden. Die von Christian Binz gebauten Puppen lassen dabei viele Erinnerungen und Assoziationen aufkommen. Wie bei den Themen, die in ihrer Mehrfachbedeutung und Bündelung ganz neuartige Verbindungen eingehen, so lassen sich an bestimmten Merkmalen zwar Figurencharakteristika von Ernie, Bibo oder Krümelmonster ausmachen, aber sie verkörpern hier ganz andere Verhaltensweisen als die ihrer Vorbilder. Deren kindliche Naivität spiegelt sich gebrochen in den Lebenserfahrungen der Figuren, einem fast hippiehaften Leben. Notwendig muss dabei in der Gestaltung der Puppe abstrahiert werden: In ihnen zeigen sich nur wenige typisierende Momente, die aber so konsequent, dass sie die fehlende Psychologie gar nicht erst vermissen lassen. Dennoch werden diese Figuren auch singend höchst lebendig, man leidet als Zuschauer mit ihnen mit, das liegt an der Animation. Und so viel sei vorab verraten, die funktioniert in diesem Ensemble auf höchstem Niveau. 

Und die Musik?

Handlung, die Entscheidung für Klappmaulpuppen, Songs, kurz: Alle ästhetischen Mittel, die das Besondere dieses Musicals ausmachen, scheinen aus einem Guss. Man spürt, wie intensiv Robert Lopez und Jeff Marx zusammengearbeitet haben, Songs und Dialoge gehen nahtlos ineinander über und auf allen Ebenen schwebt die ungeheure Freude am Zitieren, sodass der Zuschauer stets vom Gefühl des Bekannten – oder sollte es besser heißen: des „Erkannten“? – geleitet wird. Auch beim Hören der Musik hört man Swing-Töne, popkulturelle Rhythmen und Klänge von Showjingles, hat man bekannte Melodienabfolgen im Kopf. Aber keineswegs sind diese Kompositionen Plagiate, sondern haben einen starken eigenwilligen Charakter. Selbst in den Notierungen in der Partitur ist diese ironische Haltung eingegangen, wie der musikalische Leiter Ralf Schurbohm erzählt. Statt Tempoangaben gibt es Hinweise wie „creepy and nightmarish“ zu den Noten und er erzählt auch, dass sich mit jeder neuen Annäherung an die Musik von AVENUE Q neue Möglichkeiten auftun. Ungewöhnlich ist auch die Orchestrierung dieses Musicals: Klavier, Keyboard, Klarinette, Altsaxophon, Flöte, E-Gitarre, Akustik-Gitarre, Banjo, E-Bass, Kontrabass, Drums und Percussion. Alle Instrumente werden von einer sechsköpfigen „Monster All Stars Band“ gespielt.

Ein Statement von Mia Constantine (Regie):

Mit am meisten interessiert mich das Aufeinandertreffen von Puppen und Menschen. Wie agiert man miteinander und welche Darstellungsweisen lassen sich finden. Wie kann man gleichberechtigt nebeneinander agieren, ohne in Konkurrenz zu kommen? Welche Spielweisen kann man entwickeln und wo können die Puppen eine Spielform vergrößern? Und was löst dieses Aufeinandertreffen bei uns aus? Welche Erinnerungen werden geweckt? Welche Emotionen werden wachgerüttelt? Und welche Bilder entstehen in unseren Köpfen? 

Aber auch die Frage, wie lassen sich menschliche Beziehungen zwischen Puppen darstellen, hat mich sehr interessiert. Kann man es schaffen, wirklich Persönlichkeiten zu kreieren oder bleiben sie auf immer auf einer formalen Ebene.

Außerdem fasziniert mich das große Herz für die sogenannten Außenseiter:innen, die hier alle vereint in einer Straße leben. Der Arbeitslose, der keinen Job findet. Der unglückliche Künstler, der keinen Erfolg mit seiner Kunst hat. Die erfolglose Therapeutin, die immer wieder mit ihrer Herkunft konfrontiert wird.  Der Homosexuelle, der sich lange Zeit nicht outet oder die, die wegen ihres Aussehens, weil sie ein Monster ist, immer wieder mit Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert ist. Sie alle sind ein Stück weit auf der Suche nach ihrer Bestimmung, nach dem Sinn des Lebens. Da halten sie den Zuschauer:innen einen sehr deutlichen Spiegel vor.

Schlusswort

Bei so einer Produktion, in der ganz verschiedene Künste sich durchmischen, braucht es großes Organisationstalent. Allein schon die Entscheidung, dass der jeweiligen Puppe ein fester Sprecher zugeordnet ist, aber die Puppenführung von ganz verschiedenen Mitspielern übernommen werden und in den Wechseln ein hohes Spieltempo beibehalten werden muss, erfordert eine genaue Planung: Wer ist frei, wer kommt von wo? Eigentlich bräuchte es nur acht Puppen, aber nun sind es annähernd vierzig, weil in diesen Wechseln mehr Puppen gebraucht werden, die Puppe der Kate auch einen Auftritt in verkleinerter Form hat. Und neben der Organisationsarbeit, die ja schon Teil der Regiearbeit ist, aber eine mehr administrative, braucht es Fantasie und Willensstärke bei der Formung von künstlerischen Prozessen. Und diese Eigenschaften bringt Mia Constantine mit, die nicht nur durch ihr Musical über ihren Vater Eddie Constantine, der ein großer Sänger und Filmschauspieler u.a. unter Godard war (Uraufführung 2016 am Theater Regensburg), Aufmerksamkeit in der bundesdeutschen Theaterszene bekommt. Aber eine gute Regie allein schafft keine gute Aufführung. Dazu braucht es auch ein gutes Ensemble. In AVENUE Q ist ein außergewöhnliches Team zusammengekommen. Bekannt sind in Koblenz Isabel Mascarenhas, Charlotte Irene Thompson, Christof Maria Kaiser oder Adrian Becker aus ihren verschiedenen Musicalauftritten. Auch die Puppenspielerinnen Svea Schiedung und Anastasia Starodubova (sowie Hendrika de Kramer als Puppenspieltrainerin) haben sich in die Herzen der Koblenzer gespielt. Und neben Charlotte Irene Thompson zeigen auch Benno Schulz und Lukas Winterberger nicht nur ihr Können als Sänger und Darsteller, sondern auch als Puppenspieler.

Abschließend sei nur so viel verraten: Am Ende haben alle einen „guten Moment“. 

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AVENUE Q wurde nicht durch die Jim Henson Company oder Sesame Workshop genehmigt oder autorisiert. Jim Henson Company und Sesame Workshop sind nicht verantwortlich für den Inhalt des Musicals.

Text: Manfred Jahnke
Fotos: Matthias Baus