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Der Wert der Arbeit

26. Oktober 2020 · von Falk Schreiber

Ein Gespräch mit Regisseur Markus Dietze zur Arbeit an der deutschen Erstaufführung von Stings "The Last Ship".

Man kennt den britischen Musiker Sting als Schöpfer zeitloser Popklassiker: „So Lonely“, „Roxanne“, „Every Breath You Take“, „Englishman In New York“ – eine endlose Liste Hits entstammt seiner Feder. In dem (Musik-)Theaterstück „The Last Ship“ verarbeitet der 1951 als Gordon Matthew Sumner geborene Musiker auch seine Kindheit im vom Werftensterben gebeutelten Wallsend bei Newcastle. Die deutschsprachige Erstaufführung des 2014 in Chicago uraufgeführten Stücks findet am Theater Koblenz statt, Regie führt Intendant Markus Dietze.

Markus Dietze, Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger, habe ich gerne Sting gehört. Und irgendwann in den Neunzigern war mir das dann zuviel, da fand ich die Musik plötzlich prätentiös, und irgendwie hatte man sie auch übergehört. Aber jetzt, bei der Vorbereitung auf „The Last Ship“, habe ich festgestellt: Das sind schon tolle Songs!
Markus Dietze: Ja. Das macht einen guten Song aus, dass Text und Musik ineinander greifen. Das ist bei Sting durchaus auf einem Niveau eines Schubert-Liedes. Wobei Schubert ja nicht sein eigener Textdichter war. Aber wegen dieser sehr intensiven Text-Wort-Verbindungen bin ich glücklich, dass wir das nicht in einer deutschen Übersetzung singen. Was auch ein gutes Lied ausmacht, ist, dass man eigentlich immer emotional andocken kann.

Bühnenbildmodell The Last Ship

Unterschwellig haben Sie gerade schon die Genrefrage angesprochen. Im Spielplan steht „The Last Ship“ als Schauspiel, trotz der musikalischen Elemente.
Dietze: Sting sagt: „I wrote these songs to accompany a play.“ Er hat die Lieder also für ein Theaterstück geschrieben, für ein Schauspiel mit Musik. Bei der Probe heute haben wir viel an den Songs gearbeitet, aber im Prinzip ist der Textanteil schon ziemlich hoch. Bis auf wenige Ausnahmen treiben diese Songs die Handlung nicht wie im Musiktheater voran, sondern sie sind nur dem Affekt gewidmet – und dann geht die Handlung wieder weiter, mit der nächsten Dialogszene.

Was ist das, was Sie als Regisseur an dieser Geschichte …
Dietze: Ich dachte jetzt, Sie fragen: „als Sohn einer großbürgerlichen Familie!“

Würde ich nie behaupten.
Dietze: Ich denke darüber viel nach: Boah, da machen wir wieder so Arbeiternot-Geschichten! Es hat sich aber durch die Pandemiesituation etwas auch für mich Überraschendes ergeben: Die Figuren in „The Last Ship“ sagen: „Ob jemand unser Schiff braucht oder nicht – wir bauen das jetzt fertig!“ Und das haben wir im Theater auch sehr stark empfunden, als wir wegen Corona nicht spielen durften. Da haben wir auch gesagt: „Egal, wir proben jetzt einfach weiter! Wir machen jetzt Simon Stephens’ ,Maria‘ als Video! Und wir machen Ballett, wir machen das fürs Internet!“ Dass der Wert von Arbeit übers Geldverdienen hinausgeht, das ist uns plötzlich sehr bewusst geworden. Und auch jetzt fragen wir uns: „Was mag in den nächsten drei Wochen passieren?“ Und ich sage dann: „Egal, dann spielen wir halt für uns.“ Und das ist ja die Story dieses Schiffs in „The Last Ship“. Das zweite Thema ist: Hätte ich mich irgendwann anders entschieden, wäre dann alles anders gekommen? Bin ich noch derselbe, der ich vor 17 Jahren war? Was ist der Sinn des Lebens? Ein Kind zu zeugen? Möglichst alles in die Arbeit zu geben? Die große Liebe zu finden? Den lutherschen Apfelbaum zu pflanzen? Und das dritte Thema ist die Kunst. Weil gesungen wird.

Das Bühnenbild von The Last Ship

Beschrieben werden eine ganz konkrete Zeit und ein ganz konkreter Ort. Das sind die Siebzigerjahre, das ist die industrialisierte Provinz Nordenglands. In Bremerhaven oder Wismar dürfte man das kennen. Aber in Koblenz?
Dietze: Der Strukturwandel in Koblenz heißt: Weggang des Militärs. Aber wir können hier nicht immer nur „Drei Schwestern“ inszenieren, nur weil da auch die Garnison aufgelöst wird. Der Weggang der Bundeswehr hatte in Koblenz andere Folgen, nicht so fatal, nicht so grundlegend, aber Koblenz hat nun mal keine Geschichte mit abgebrochener Industrialisierung. Insofern haben Sie schon recht, das ist hier nicht unmittelbar anwendbar. Ich bin mir aber auch gar nicht sicher: Wenn ich in so einer Region mit Strukturwandel wohnen würde, will ich den unbedingt auf dem Theater erleben? Ich habe ihn ja jeden Tag live in den schrecklichsten Farben vor meiner Haustür. Andererseits, das Gefühl „Es ändert sich was, und es wird nie wieder sein wie vorher“, das kennen viele Leute. Und in Zeiten von Corona kennen es ohnehin alle.

Markus Dietze und Esther Hilsemer während einer Probe

Mir fällt ein weiteres Stück mit Bezug zum postindustriellen Strukturwandel im Koblenzer Spielplan auf, auch mit Bezug zur englischen Provinz, und Sie haben es vorhin auch schon erwähnt: Simon Stephens’ „Maria“. Blicken diese beiden Stücke aus unterschiedlichen Perspektiven auf einen ähnlichen Kosmos?
Dietze: Bei „Maria“ habe ich ja auch Regie geführt, und etliche Darsteller sind die gleichen. Manche Simon-Stephens-Sätze würden auch sehr gut in dieses Sting-Buch passen. Ich glaube, ich bin ein Strukturwandel-Stück-Liebhaber, weil ich finde, dass diese Arten von fundamentalen Veränderungen im menschlichen Leben tolle Stoffe fürs Theater sind. Und da sind wir schon wieder bei Corona: Eine Gesellschaft muss lernen, radikale Veränderungen zu adaptieren. Wenn sie das nicht kann, dann gibt es eine Diktatur, weil die Kräfte, die das nicht aushalten, die Oberhand gewinnen. Und eine Gesellschaft muss Krisen bewältigen können.

Wie bewältigt die Gesellschaft in „The Last Ship“ denn die Krise? Eigentlich gar nicht, oder? Die einen bauen ihr Schiff sinnlos zu Ende, und die anderen gehen weg.
Dietze: In einer der Urfassungen ist es sogar noch viel trostloser. Die bauen absurderweise dieses Schiff fertig, und alle wissen, es ist ein Zeichen der Hoffnung, aber letztendlich überflüssig, also hoffnungslos. Und die Liebenden kommen in der Originalversion auch gar nicht zusammen. Hier fahren sie noch ein Stückchen den River Tyne runter, aber ich sage: Sie steigt da schnell wieder aus. Man kann nicht einfach ein Schiff fertigbauen, und dann ist alles gut. Selbst wenn jemand sagen würde: „Tolles Schiff, das kaufen wir euch ab“, dann gibt es trotzdem kein nächstes Schiff. Das ist eher eine Hoffnungsgebung, ohne praktische Anleitung.

Interview: Falk Schreiber
Fotos: Anja Merfeld