Ein Schuss gegen alles Unrecht

09. November 2022 · von Falk Schreiber

Mit „beretta kaliber 22“ zeigt das Theater Koblenz die Uraufführung eines Stücks der jungen Dramatikerin Sarah Amanda Dulgeris. Es geht um einen realen Kriminalfall aus den 1980ern – und um die Frage, wer handelndes Subjekt ist, und wer Objekt bleibt. Ein Interview mit Autorin Dulgeris und Regisseurin Malin Lamparter.

Die Basis von „beretta kaliber 22“ war der „Fall Bachmeier“: 1981 hatte Marianne Bachmeier im Landgericht Lübeck den Mörder ihrer Tochter erschossen, ein Fall von Selbstjustiz. Woher kommt Ihr Interesse für diesen Stoff?

Sarah Amanda Dulgeris: Der Arbeitsauftrag, den wir in unserem Schreibstudium hatten, war: „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen“. Von dort aus bin ich gestartet und habe mich von Anfang an darauf konzentriert, was Konsequenzen von Lügen bedeutet und welche Auswirkungen sie haben können bis hin zum Töten. „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ da war ich dann mittendrin in der Rachethematik und darüber bin auf dem Fall Bachmeier gekommen.

Das Ganze war in den Achtzigern ein Medienthema, ich erinnere mich noch an einen großen Artikel im „Stern“. Sie sind aber deutlich jünger, woher kannten Sie den Fall überhaupt?

Dulgeris: Das Stück beginnt mit einer Szene, in der eine Mutter auf dem Balkon mit ihrer Tochter frühstückt. Das war tatsächlich meine Mutter, im Jahr 1996, da war ich zehn, und damals wurde in der Zeitung zum Todestag von Marianne Bachmeier noch einmal ausführlich über ihren Fall berichtet, und meine Mutter hat diesen Satz ganz selbstbewusst gesagt, dass sie das genauso gemacht hätte: das Schwein erschossen. Das hat mich sehr beeindruckt und auch erschüttert, seitdem hat mich dieser Fall nie losgelassen.

Im Stücktext gibt es keine festgelegten Rollen, das ist ein Fließtext, der auf fünf Schauspieler*innen verteilt wurde. Was ist das denn für ein sprachlicher Zugriff?

Malin Lamparter: Wenn man ein bisschen Lust hat, mit neuer Dramatik zu arbeiten, dann begegnet einem sowas öfters. Was ich ganz wunderbar finde, ich weiß gar nicht, warum neue Stücke so einen schlechten Ruf haben. Und obwohl die Figuren keine eindeutige Bezeichnung haben, gibt es ja trotzdem Rollen in dem Stück. Das sind Menschen, die sprechen, die eine Agenda haben. Bei der Textaufteilung wusste ich, dass ich fünf Spieler*innen habe, die kannte ich auch schon einigermaßen. Dann habe ich die Texte in einem ersten Durchgang ein bisschen aufgeteilt, nach sozialer Klasse beziehungsweise nach Funktion in der Gesellschaft, und dann habe ich alle Texte, die aus dieser Klasse heraus sprechen, jeweils einer Person zugeteilt.

Arbeiten Sie in der Inszenierung zusammen? Also, gibt es zwischen Autorin und Regisseurin regelmäßigen Kontakt?

Dulgeris: Wir hatten vor dem Beginn der Proben intensive Gespräche, und ich war bei der Konzeptionsprobe dabei. Und dann habe ich das Stück in die Hände des Teams gegeben.

Lamparter: Am Anfang haben wir einmal länger telefoniert, aber seitdem hatten wir nicht mehr viel Kontakt. Aber beim Proben ist man dann so drin in seinen eigenen Gedanken, ich glaube, man muss das dann auch inzenatorisch durchbringen, ich finde das eigentlich ganz gut so.

Bild beretta kaliber 22

Ein paar Motive tauchen mehrfach im Stück auf, zum Beispiel das Fleisch und die Fleischerei. Ein weiteres Motiv ist die Familie – ganz am Anfang gibt es die Szene am Frühstückstisch, da ist eine Familie, die sich über den Fall Bachmeier austauscht. Und schließlich wird die Täterin immer als „Mutter B“ bezeichnet, also immer in ihrer Familienfunktion.

Lamparter: Ich würde sagen, die Mutterschaft steht im Zentrum des Stücks. Seitdem ich mich mit dem Text beschäftige, also seit anderthalb Jahren, habe ich immer wieder mit Leuten über den Fall gesprochen. Menschen aus meiner Generation kennen die Geschichte meistens nicht, aber aus der Generation meiner Eltern kennen alle den Fall. Und wenn man darüber redet, dann stellen sich alle sofort vor: Was wäre, wenn dem eigenen Kind oder jüngeren Geschwistern etwas passieren würde? Da spielt Familie eine große Rolle, das ist eine Art von emotionaler Bindung, dass man sich über Schutzbefohlene Gedanken macht. Rache ist verständlich, wenn man das Gefühl hat, eine geliebte Person beschützen zu müssen.

Das hat jetzt allerdings nichts mehr mit dem Ursprungsmotiv „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen“ zu tun. Der Erschossene steht vor Gericht und wird des Missbrauchs beschuldigt, und er sagt „Es gab keinen Missbrauch, ich wurde falsch beschuldigt und erpresst.“

Dulgeris: Das trifft genau das Ursprungsmotiv. Nämlich: Warum sollst du kein falsches Zeugnis ablegen? Weil es eine Konsequenz hat, eine Folge, in diesem Fall sogar mit einem Totschuss bestraft wurde. Vor Gericht sagte Marianne Bachmeier, sie wollte verhindern, dass er weiterhin Lügen über ihre Tochter verbreite. An dieser Stelle geht es natürlich viel tiefer, nämlich in das Thema Werte und Herkunft. Jede soziale Herkunft hat ein anderes herrschendes Wertesystem, was aber vor Gericht in einer Demokratie keine Rolle spielt. Das Gericht fragt dich nicht: Hat das deine Ehre, deinen Stolz, deine Würde verletzt? Das wäre auch fatal, trotzdem müssen wir an dieser Stelle nach Repräsentanz fragen. Wer repräsentiert hier wen und welches Wertesystem, und wer bekommt dadurch Sprache, Macht und Deutungshoheit? Bachmeier hatte keine Repräsentanten, weder durch ihre Familie noch durch staatliche Institutionen. Es war für alle klar: Die hat zwei Kinder im Heim, das jüngste Kind ist jetzt tot, und dann ist sie auch noch Besitzerin einer Kneipe, es war so ein Ton von: „Heul leise!“ Es war insgesamt eine sexistische und klassistische Prozeßführung.

Lamparter: Ihre Tat hatte auch damit zu tun, dass der Angeklagte vor Gericht stehen und über ihr Kind sprechen durfte, das Schlimmste war nicht, was der über das Kind dachte, sondern dass das Gericht sagte: „Wir hören uns das an, wir hören jetzt keine Kassette von ihrem Kind!“ Es ging in diesem Gerichtsprozess nur um die Frage, ob der Mann schuldunfähig ist, und überhaupt nicht um das Opfer. Für mich ist das die Motivation für den Schuss im Gerichtssaal, da geht es nicht nur um Rache, sondern auch um ein Auflehnen gegen das Rechtssystem und den kalten, nahezu unmenschlichen Umgang mit den Opfern.

Dulgeris: Ich glaube, unabhängig davon, was der Mörder ihrer Tochter über das tote Kind gesagt hat und ob es wahr oder gelogen ist, wäre er dafür verurteilt worden oder nicht, hätte Marianne Bachmeier trotzdem geschossen und den Mörder ihrer Tochter getötet. Das ist meine Meinung. Da ging es um einen Schuss gegen alles Unrecht, das ihr bis dahin in ihrem Leben angetan wurde. Ein Schuss, der sie vom Opfer zur Täterin macht, von einer Unerhörten zur Erhörten.

Im Vergleich zu diesem Komplex ist die genaue Beschreibung, wie der Mann umgebracht wurde, eigentlich gar nicht so wichtig. Weswegen lautet der Titel dann „beretta kaliber 22“, der Name der verwendeten Waffe?

Dulgeris: Über diese Waffe wird im Prozess mehr gesprochen als über das getötete Kind. Und man könnte schon fragen, warum sie sich für die Beretta entschieden hat. Viel wichtiger finde ich die Empörung darüber. Natürlich ist die Pistole eine typisch männlich konnotierte Waffe. Die Frau, die dadurch ihren Radius verlässt, ihren vorgesehenen männerweltlichen Radius und nicht zur Bratpfanne …

Lamparter: … zum Gift!

Dulgeris: … greift, sondern zur Beretta, Kaliber 22. Das hat diese Männerwelt, diese Gesellschaft empört.

Lamparter: Wir haben auf der Bühne so eine Beretta. Die wird nicht abgeschossen, die ist nur ausgestellt in einer Vitrine, aber die ist schon schwer, wenn man sie in der Hand hat. Das macht was mit einem, das ist aufgeladen mit Macht. Und uns geht es um Macht, es geht darum: Wer kann entscheiden, von wem geht die Macht aus? Und dieser Gegenstand kann die Macht plötzlich komplett umdrehen. Deswegen passt es total, dass das Stück diesen Titel trägt, weil diese Beretta die Machtstruktur verändert. Der Titel sagt, was Bachmeier ermächtigt hat, das ist ein Empowerment.